Schwarze Schuld, weiße Strafe

Vor Gericht in Namibia: ein Schwarzer, ein Weißer, wegen Mordes unter Alkoholeinfluß angeklagt / Gesetze aus der Apartheid-Ära  ■ Aus Windhuk Dominic Johnson

Wenn Richter O'Linn einer Aussage besondere Bedeutung beimißt, wendet er erst sein linkes und dann sein rechtes Ohr dem Zeugenstand zu, beugt sich leicht vor und meint halb ironisch: „Bitte reden Sie etwas lauter. Sie sind vor Gericht – das ist kein Ort, an dem man Geheimnisse erzählt.“ Aber da das jetzt von ihm geleitete Verfahren im Saal C des High Court in Namibias Hauptstadt Windhuk seine Aufmerksamkeit nur mäßig in Anspruch nimmt, sitzt er gelangweilt auf der Empore und blickt durch seine Hornbrille auf ein nicht anwesendes Publikum.

Es geht um Mord. Und Brian O'Linn ist Größeres gewohnt. Als einer der ältesten und bekanntesten Richter Namibias lebt er in einer Welt der Untersuchungskommissionen und der schwierigen Gratwanderung zwischen hoher Justiz und hoher Politik. Während er im Saal C sitzt, macht sein Untersuchungsbericht über die dubiosen Praktiken des ersten namibischen Fischereiministers Gert Hanekom in den Medien Furore. Fischerei ist in Namibia ein Politikum – Gewaltkriminalität nicht.

Wie kann also ein einfacher Mörder Richter O'Linn in seinen Bann ziehen, der ja nur in einem Anfall von Trunkenheit seine Mutter erschossen hat – und noch dazu ein ungebildeter Mörder, ein Bauer aus dem hohen Norden, der weder Englisch spricht noch ein Gewehr benutzt, sondern mit Pfeil und Bogen schießt und vor Gericht einen Übersetzer braucht?

Der 10. Oktober 1992 war ein Samstag, Ruhetag selbst in der nordostnamibischen Savanne, und im Hüttendorf (Kraal) Kaparara wurde getrunken. Ein Liter des whiskyähnlichen Lokalgesöffs kostete fünf Rand, und es flossen viele Liter in der Nachmittagshitze die Kehlen hinunter. Wilbert Mbanze Nankema, damals 29 Jahre alt, schluckte kräftig mit, ebenso seine Brüder Petrus und Adriaan, seine Mutter Magdalena und seine Ehefrau. Es sollte das letzte Familiengelage sein. „Wieviel tranken Sie an jenem Tag?“ fragt Verteidiger Mtopa seinen Mandanten. „Zuviel“, sagt der und verzieht das Gesicht.

„Später“, so Wilbert („Willie“), „sagte ich meiner Frau, sie solle gehen und für die Kinder kochen. Sie antwortete: Das weiß ich selber, du hast mir keine Lehren zu geben. Ich erwiderte: Du bist meine Frau, wie sollte ich dich nicht belehren? Wenn ich dir was sage, machst du es, also geh und koche für die Kinder, sonst werden die Leute sagen: Du bist eine Trinkerin, die nur im Busch liegt.“ Hier braucht Richter O'Linn seine Ohren nicht zu spitzen. Er grinst. „Vielleicht kannst du von deiner Frau was lernen“, murmelt er und verbietet dem Übersetzer, diese Bemerkung dem Angeklagten mitzuteilen. „Als ich so mit meiner Frau redete“, fährt Willie fort, „kam meine Mutter. Sie sagte: Warum behandelst du deine Frau so? Ich sagte: Weil sie nicht gehen und kochen will. Meine Mutter meinte: Die wird schon noch gehen. Da nahm ich ein Holzbrett und schlug meiner Frau auf den Hintern. Meine Mutter wollte dazwischengehen. Ich schubste sie weg, sie fiel hin. Da kamen meine Brüder Petrus und Adriaan dazu. Ich stieß meinen älteren Bruder Petrus auch weg. Die beiden packten mich und schlugen auf mich ein, Petrus hielt meine Arme fest, Adriaan schlug mich mit einem Stock, so wie man eine Schlange schlägt. Sie schleiften mich aus dem Kraal hinaus und schlugen mich blutig, ich war ganz durcheinander. Irgendwie konnte ich mich losreißen und nach Hause rennen. Dort holte ich Pfeil und Bogen und begann die anderen zu jagen. Es wurde dunkel.“

In der Dunkelheit schoß Willie drei Pfeile ab. Einer traf seine Mutter ins Herz. Ein zweiter blieb in einem Baum stecken. Der dritte traf Petrus ins linke Bein. Irgendwie gerieten dann noch die Hütten von Petrus und Adriaan in Brand. Mord, versuchter Mord und zweifache Brandstiftung lautet denn auch die Anklage.

Willie verharrt reglos auf der Anklagebank, versteht von der auf englisch geführten Verhandlung kein Wort und marschiert, wenn er gerufen wird, mit gemessenem Schritt in den Zeugenstand, wo er den Übersetzer um einiges überragt und bei seinen Aussagen mit einer Mischung aus Flehen und Verachtung auf ihn herabblickt. Ein Jahr hat Willie in Untersuchungshaft gesessen – zuletzt im Hauptgefängnis von Windhuk, von dem erzählt wird, daß auf 400 Plätze 1.200 Insassen kommen –, doch er sieht eher noch unbeugsamer aus als sein Bruder Petrus, der die aggressive Art des Angeklagten geißelt. Stolz und entzweit präsentieren die Brüder dem Windhuker Gericht eine fremde Welt.

Am Tag nach der Mordnacht stellte sich Willie – fürchtete er die Rache seines Dorfes? – der Polizei, was in seiner entlegenen Heimatregion Kavango nicht so einfach ist. Die nächste Polizeistation lag in Nkurenkuru, 100 Kilometer entfernt, und es blieb Willie nichts anderes übrig, als unterwegs ein Polizeiauto anzuhalten und sich zwecks Mitfahrgelegenheit verhaften zu lassen. So konnten die ahnungslosen Beamten ihren Vorgesetzten einen frischen, geständigen Mörder präsentieren. So ganz geständig war der dann aber doch nicht. Willie wollte sich partout an keine einzige Tat erinnern, sondern erklärte nur, man habe ihm am Morgen von seinen Verbrechen erzählt – ein Umstand, der das High Court in Windhuk irritiert. „Sie wissen ja nicht einmal, ob Ihr Mandant den Tod seiner Mutter zugibt oder nicht“, herrscht Richter O'Linn Willies Verteidiger Mtopa an, und der beantragt flugs eine Verhandlungspause.

M.T. Mtopa ist Pflichtverteidiger, er hat Willie erst zehn Minuten vor Verhandlungseröffnung zu Gesicht bekommen, und als der schwarze Anwalt eines Schwarzen fühlt er sich offensichtlich im Nachteil gegenüber dem alten weißen Richter und der weißen Staatsanwältin Anne-Marie Lategan. Schwarze Schuld, weiße Anklage und ein Prozeß in der neuen, ungewohnten Amtssprache – es mutet an wie ein Kolonialgericht. „Es gibt keine schwarzen Staatsanwälte in Namibia“, erklärt Gerichtsreporter Christof Maletsky während einer Pause. „Wir sind doch noch ein junges Land.“

Namibia ist erst seit 1990 unabhängig. Davor war es von Südafrika besetzt und sprach offiziell nicht Englisch, sondern Afrikaans, und der Großteil der Gesetzgebung stammt aus dieser Apartheid-Ära. So wirkt es auch seltsam, wenn Richter O'Linn, mit seinem Oxford-Akzent ein Justizhase alter angelsächsischer Schule, sich auf „namibisches Recht“ beruft, um die Unterordnung der alten Tradition unter die neue Zeit zu bekräftigen.

Dabei ist Willie hier nur gelandet, weil ein namibisches Provinzgericht sich schon an ihm die Zähne ausgebissen hat. Vor dem Amtsgericht von Rundu, heißt es, hatte Willie behauptet, die Tote sei gar nicht seine Mutter, so daß der Amtsrichter sich zu einem Urteil außerstande sah und den Fall hochgab. Da offenbar auch kein schriftlicher Polizeibericht angefertigt wurde, muß nun also Detective-Sergeant V.L. Petrus, der am Tatort die Untersuchung leitete, in Windhuk aussagen.

Der Detective-Sergeant hat ein Holzbein, und wenn er langsam und akkurat nach vorne kommt, knarrt es. Seiner genauen und erhabenen Art kann dies jedoch wenig anhaben; er spricht Englisch, und so könnte das Verfahren sich jetzt beschleunigen. Doch der Sergeant wird von der weißen Staatsanwältin, deren Zeuge er eigentlich ist, regelrecht auseinandergenommen, muß seine Erkenntnisse aus Kaparara immer neu formulieren und begründen: Man traut ihm wenig zu hier in Windhuk, dem Landpolizisten aus dem hohen wilden Norden.

In seiner Aussage ist V.L. Petrus dennoch unbeirrbar, vor allem über sein Verhör Willies. „Ich fragte ihn: Warum hast du deine Mutter erschossen? Er sagte: Ich war betrunken.“ Also doch ein Geständnis. V.L. Petrus hat die Leiche der Mutter in die Leichenhalle gebracht, den verletzten Bruder ins Krankenhaus und die verschossenen Pfeile ins Labor, wenn man denn von einem Labor sprechen kann. Er ist sich sicher: Willie war der Täter. Das war allerdings schon vorher klar. Willie bestreitet seine Taten ja gar nicht. Er kann sich nur nicht mehr daran erinnern und hofft, damit den Anklagepunkt des „vorsätzlichen Mordes“ zu entkräften. In der Tatnacht war er „betrunken“ und „durcheinander“, beteuert er; er habe gar nicht gemerkt, daß er Pfeil und Bogen holte und damit schoß.

Wußte der sturzbetrunkene Willie, was er tat – oder nicht? Neunzig Prozent aller Gewaltverbrechen in Namibia werden nach einer Untersuchung des Namibischen Kirchenrats unter Alkoholeinfluß begangen; einer Untersuchung des Gesundheitsministeriums zufolge sind sogar drei Viertel aller aktiven Arbeitnehmer im Land alkoholabhängig. Die Trinkerei und die daraus entstehende Kriminalitätswelle ist heute eine der großen gesellschaftlichen Sorgen in Namibia. Ist Namibia unzurechnungsfähig?

In einem anderen Saal des High Court von Windhuk steht ein 23jähriger deutscher Farmer vor seinem Richter, Justice Pio Teek. Karl-Heinz Hauer hat am 16. September 1992 seinen schwarzen Arbeiter Titus Nanab mit einem Autowerkzeug erschlagen, nachdem bei einer Fahrt, während deren der Schwarze auf der Ladefläche des Wagens hockte, das Rückfenster zu Bruch ging. Die Leiche blieb am Straßenrand liegen. Täter wie Opfer waren betrunken, der Beifahrer auch. Trunkenheit – ein mildernder Umstand?

Darauf hofft der Weiße Karl- Heinz Hauer ebenso wie der Schwarze Wilbert Mbanze Nankema. Karl-Heinz weiß sich zu wehren: Er beschuldigt die Polizei, sein Geständnis erpreßt zu haben, und versucht nach Kräften, von dem Mord abzulenken. Willie versucht es auf andere Art. Er betont, er sei während der Tatzeit „wie ein Verrückter“ gewesen, und erzählt auf Nachfrage eine kuriose Geschichte: Um 1988 brachte seine Familie ihn zu einem witch doctor, einem Medizinmann, der ihm einen „Schmetterling im Kopf“ diagnostizierte. „Der Schmetterling“, erklärt Willie, „bewirkt, daß ich wie ein Verrückter handle, wenn ich betrunken bin.“ Stimmt das? „Nach diesem Vorfall denke ich, daß der Medizinmann recht hatte.“

Medizinmänner aus der Savanne passen nicht so recht zum angelsächsischen Rechtssystem. Sie verweisen auf verdeckte höhere Einflüsse, die den Charakter eines Menschen steuern – das Gesetz kennt nur individuelle Verantwortung. So geht Willies Geschichte nach hinten los. Richter O'Linn folgert daraus nämlich keine verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten, sondern bemerkt ganz einfach, daß Willie hätte wissen müssen, wozu er im Zustand der Volltrunkenheit fähig ist. Seine „Verrücktheit“ kam nicht als Überraschung. Sie war bei Willie angelegt und ihm bekannt.

Die Urteile gegen Wilbert Mbanze Nankema und Karl-Heinz Hauer fallen am gleichen Tag. Dem deutschstämmigen Farmer wird der Alkoholeinfluß als mildernder Umstand anerkannt: Er bekommt von Richter Pio Teek sechs Jahre Gefängnis plus drei auf Bewährung. Mildernde Umstände für Willie gibt es nicht. Seine Strafe: lebenslänglich. „Wegen der Art der Verbrechen, die Sie begangen haben“, erklärt Richter O'Linn, „sollten Sie auf Bewährung oder anders erst entlassen werden, nachdem Sie mindestens 16 Jahre im Gefängnis verbracht haben.“