■ Kindesmordprozeß gegen zwei Elfjährige in England
: Kind A und Kind B

Ein Kind wurde ermordet: Das ist entsetzlich und geschieht dennoch so häufig, daß man die Fälle nicht einmal zählt. Doch dieses Mal liegt der Fall anders, und die Welt ist entsetzt: Ein Kind wurde ermordet, und als Mörder stehen in Großbritannien jetzt zwei Kinder vor Gericht.

Das eine Kind hat einen Namen: Der kleine zweijährige James Bulger wurde in einem unbeaufsichtigten Moment aus einem Liverpooler Supermarkt entführt, weggelockt nur aus dem einen einzigen Grund: um ihn zu ermorden. Die anderen beiden Kinder heißen „Kind A“ und „Kind B“, zwei zu Buchstaben mutierte Jungen, von denen man nur weiß, daß sie zur Tatzeit gerade mal zehn Jahre alt waren. Die Anonymität dient dem Schutz der beiden Kinder vor einer aufgebrachten Öffentlichkeit. Doch gleichzeitig schützt sie auch die Öffentlichkeit vor sich selbst. Die Entpersönlichung von „Kind A“ und „Kind B“ läßt Milde walten mit einer Gesellschaft, der nichts besseres einfällt als die brutale Tat nun ihrerseits mit Brutalität zu vergelten: ein Kordon von Sicherheitskräften muß die Kinder A und B vor einer lynchbereiten Meute Erwachsener schützen, die nicht merken wollen, daß es genau diese Gewaltgelüste sind, aus denen der Mord geschehen konnte.

Kinder ohne richtigen Namen haben — wie bequem — auch keine sichtbaren Eltern, keine Lehrer, keine Nachbarn. Kleine Fertigmonster, ohne persönliche Biographie, ohne jeglichen gesellschaftlichen Bezug einfach in die Welt geschneit. Das entlastet und macht die Empörung um so größer. Aber was entsetzt eigentlich so an dieser Tat? Was macht diesen Mord zu einem, der mehr als andere Haß und Rachegelüste weckt? Einzig und allein das Wörtchen „schon“. Daß „schon“ Zehnjährige zu solch einer Brutalität fähig sind. Daß „schon“ Viertkläßler zu berechnenden Mördern werden, daß „schon“ Kinder Lust am Töten haben. Die darin implizierte Folgerung, daß dies alles eigentlich erst Erwachsenen zusteht, wird dabei kaum laut zu Ende gedacht.

Im Wörtchen „schon“ steckt eine reine Selbstbezichtigung. Es enthält das Eingeständnis, daß erst diese Gesellschaft aus unschuldigen Wesen Mördern macht. Nur: Wieviel Lebensjahre braucht es, bis die Lektion in Sachen Verrohung gelernt ist? Was die Öffentlichkeit am Beispiel von Kind A und B erschreckt, ist nicht die Verrohung selber, sondern allein die Tatsache, daß sie immer früher wirkt. Alarmiert beobachten Pädagogen, wie „schon“ Achtjährige im Pausenhof aufeinander losgehen, wie „schon“ Zehnjährige ihre Mitschülerinnen mit Vergewaltigung bedrohen, wie „schon“ Vierzehnjährige mit einem scharfgemachten Revolver in die Disco ziehen, wie in den Großstädten „schon“ jeder dritte Jugendliche mit einer Waffe in die Schule kommt. Natürlich ist es ein Warnsignal, wenn Auseinandersetzungen unter Kindern und Jugendlichen, die vor Jahren noch bloße Keilerei waren, heute nicht eher enden, bis einer der Kontrahenten krankenhausreif am Boden liegt. Natürlich erschrecken Vorfälle wie dieser, der sich im letzten Monat an einer Ostberliner Schule ereignete: Da konnte ein Fünfzehnjähriger erst durch den massiven körperlichen Einsatz einer Lehrerin daran gehindert werden, einen als „Streber“ gehänselten Mitschüler aus dem Fenster zu stürzen. Monate zuvor hatten drei Ostberliner Jugendliche ihren Mitschüler mit einem Sprungseil so die Luft abgedrosselt, daß ein Lehrer ihn in letzter Sekunde vor dem Ersticken bewahren mußte. Aber warum ist es weniger die Tat als das jugendliche Alter der Täter, das uns so erschreckt? Was, außer einer naiven Hoffnung, gibt uns den Glauben, daß Kinder die besseren Menschen sind? Besser ausgerechnet als die, die sie doch „erziehen“ sollen? Was gibt uns umgekehrt das Recht, aus Kindern und Jugendlichen kleine Bestien zu machen, wenn sie das Schreckliche tun, was die Erwachsenenwelt ihnen als alltägliche Gewalt vorlebt? Wenn Nacht für Nacht irgendwo ein lächerlicher Kneipendisput mit tödlichem Finale endet oder ein angebranntes Abendessen zur Lebensgefahr für eine Ehefrau werden kann, ist das zwar schlimm, aber normal. Alter schützt vor Torheit nicht, heißt ein altes Sprichwort. Warum aber sollte die Kindheit es tun?

Wellenförmig beschäftigt sich ein Heer von Soziologen, Pädagogen, Psychologen und einigen (wenigen) Politikern mit der „Jugendgewalt“. Gerade jetzt hat das Thema Hochkonjunktur. Doch meist erschöpft sich die Ursachenforschung im Auspüren punktueller Versäumnisse: zuwenig Zuwendung, zuwenig Zeit, zuwenig Erlebnisräume, zuwenig moralische Werte für Kinder. Wenn's hochkommt, springen aus der Debatte dann ein paar zusätzliche Kinderspielplätze, Jugendheime oder Lehrstellen heraus.

Doch warum glauben wir, für Kinder und Jugendliche Wege aus der Gewalt suchen zu müssen, nicht aber für die Erwachsenen? Nach wie vor töten, schlagen, morden, rauben, erpressen sie weitaus häufiger als Kinder und Jugendliche. Und vor allem sind es die Erwachsenen, die mit ihren Entscheidungen das Klima schaffen für die strukturelle Gewalt: mit einer Stadtplanung, die keinerlei Erlebnisräume mehr läßt, mit einer Verkehrspolitik, der täglich mehr Menschen zum Opfer fallen als der heimtückischsten Krankheit, mit einem Fernsehprogramm, das von dem lebt, was eigentlich unter Strafe steht: von Kriminalität und körperlicher Gewalt.

Wenn Kinder in punkto Gewalt immer früher zu Erwachsenen werden, warum dann nicht das umgekehrte Planspiel spielen und Erwachsene zu Kindern machen? Was brauchen Kinder und warum sollten Erwachsene darauf verzichten können? Welche Dinge muten wir uns tagtäglich zu, von denen wir wissen, daß sie für Fünf-, Neun- oder Dreizehnjährige „Gift“ sind. Warum glauben wir, daß nur Kinder eine „kindliche“ Neugier haben, der Erlebnishunger von Erwachsenen jedoch mit bebildeter Scheinwirklichkeit stopfbar ist? Wie können Pornovideos oder Brutalostreifen für Zehnjährige nicht „verkraftbar“ sein, für Dreißigjährige aber Super-Unterhaltung? Warum argwöhnen wir zu Recht, Kinder könnten Szenen aus Horrorfilmen als umgekehrtes Reality-TV in die Tat umsetzen, glauben aber gleichzeitig, Erwachsene seien durch eine jahrelang gegerbte emotionale Hornhaut dagegen immun?

Der Versuch, die Welt der Erwachsenen danach auszurichten, wie wir sie uns für Kinder wünschten, wäre ein spannendes Gedankenspiel. In der Praxis jedoch findet schon seit Jahren gerade das umgekehrte Experiment statt: Kinder werden immer früher für die Welt der Erwachsenen „gestählt“. Wenn Achtjährigen der Eintritt in „Jurassic Park“ verwehrt wird, dann kämpfen Eltern plötzlich ganz radikal für die persönlichen Freiheitsrechte ihrer Kinder. Wenn Fünfjährige nicht still sind (wie Erwachsene), drohen verärgerte Nachbarn mit Räumungsklagen, und wenn Vierzehnjährige meinen, Autofahren sei nun mal wichtiger als das große Einmaleins, dann sind es die Väter, die augenzwinkernd mit ihnen auf den Waldweg zum Üben fahren. Nur: Wer Kind A und Kind B keine andere Welt als die von Meier oder Smith anbietet, darf sich nicht entsetzen, wenn die „lieben Kleinen“ auch genauso werden wie die. Vera Gaserow