■ Spätlese: Freisinn
Es lesen zwei Männer dasselbe Buch, sie ziehen ähnliche Schlüsse daraus, aber der eine wird dafür hingerichtet: der Müller Menocchio in Friaul, der Edelmann Montaigne im Périgord studierten in denselben Jahren „Die Reisen des Sir John Mandeville“, in denen von Erfahrungen mit den Heiden in Indien, China und noch weiter entlegenen Gegenden die Rede war. Auch die Menschenfresser, die Pygmäen, tauchen darin auf, die ihre Freunde verspeisen, denn für sie gibt es kein Paradies, kein ewiges Leben, und die Gnade findet andere Orte als die der Christenheit bekannten. Sind sie nicht Menschen ganz in ihrer Welt, so wie die Türken und die Juden, die wohl gläubig sind, aber doch der Christenheit nicht angehören? „Jawohl, Herr, ich glaube, daß jeder glaubt, sein Glaube sei gut, aber man weiß nicht, welches der gute sei...“ Der Müller Menocchio, der glaubte, aber jegliches Toleranzedikt vorwegnahm, wurde der christlichen Gnade der Inquisition zweimal und schließlich der Erlösung durch seine Hinrichtung, verfügt durch den Papst selber, teilhaftig. Mit ihm starb – nein, eben nicht Montaigne, sondern Giordano Bruno, der gelehrte Mönch: zwei Opfer desselben Feldzuges gegen die Freiheit des Gedankens, der eine ein Vertreter der Hochkultur, der andere ein Mann des Volkes. Mit Giordano Bruno wiederum hatte der Müller eine andere Lektüre gemeinsam: die des inkriminierten „Dekameron“, in dem es heißt: So „soll, mit Gottes Hilfe dieses Buch verfaßt und auch von Nutzen sein...“
Die ausgezeichnete Quellenlage der Inquisitionsprozesse gegen den Müller Demonico Scandella, genannt Menocchio, geboren im Jahre 1532, hingerichtet im Jahre 1601, hat den Historiker Carlo Ginzburg bewogen, sich dieses Falles anzunehmen. Seine Studie, 1976 in Italien erschienen, jetzt als Taschenbuch wieder aufgelegt, hat ihrerseits Geschichte gemacht: wegen ihres methodischen Wertes für die Geschichtsschreibung, ihres theoretischen Anliegens (im Vorwort des Buches nachzuverfolgen), aber auch wegen des Materials, das sie – von Karl F. Hauber aufmerksam ins Deutsche gebracht – zu einer Erzählung macht.
Diese Erzählung ist an dieser Stelle nur zu loben, und den Genuß ihrer Lektüre durch eine summary zu schmälern wäre ganz unsinnig und geradezu verwerflich. Es ist nicht nur eine Inquisitions-, sondern auch eine Lektüregeschichte: Der Müller Menocchio, des Lesens und Schreibens kundig, aber natürlich kein Gelehrter, las die wenigen Bücher, die er sich beschaffen konnte, anders als seine erwähnten Zeitgenossen: Das – ungekürzte – „Decamerone“, die erwähnten „Reisen“ und vermutlich den Koran hatte er nicht im Schrank, sondern im Kopf. Zehn, fünfzehn Jahre noch, nachdem er sie dem Verleiher zurückgegeben hatte, wanderten sie durch seine Gedanken, er kaute an ihnen wie die Männer in anderen Ländern an Betel, unermüdlich, saugend, verformend. Aus der Erfahrung der erwähnten Pygmäen, daß fette Leichen gut, magere aber schlechter munden, wurde so beim Müller im Laufe der Jahre etwas anderes: die gut schmeckende Leiche war ein guter Mensch gewesen, die magere ein schlechter. Doch über die Sublimierung von gastronomischen in moralische Urteile hinaus zog er aus der Pygmäenerzählung noch Unterstützung für seine ganz antichristliche Annahme: „Und daraus habe ich diese Meinung geschöpft: Ist der Körper tot, stirbt auch die Seele.“
Menocchio konnte seine Bücher nicht, wie Montaigne, studieren: durch andere Lektüren relativieren, korrigieren, verarbeiten, zitieren, weiterschreiben. Seine Aneignung war eine fast leibliche, sein Organismus, so sah es die Kirche, von der Lektüre vergiftet. Der Müller bestand darauf, Christ zu sein und an Gott zu glauben – aber auch, einen eigenen Kopf und seine Anschauungen selbständig gebildet zu haben –, und er reizte seine Inquisitoren nicht wenig durch das intellektuelle Selbstbewußtsein, das er darin an den Tag legte. Erst dieses Selbstbewußtsein ermöglichte ihm, mit seinen Richtern zu argumentieren und ihre sophistischen Fragen nach der Architektur des himmlischen Gebäudes mit abweichenden Bauplänen zu beantworten. Seine höchsteigene Kosmologie gab Ginzburgs Buch den Titel: „Aus der vollkommensten Substanz der Welt“, gab der materialistische Müller wider die Schöpfungslehre zu Protokoll, „wurden die Engel von der Natur hervorgebracht, wie aus einem Käse Würmer entstehen, aber wenn sie herauskommen, erhalten sie Willen, Verstand und Gedächtnis von Gott, der sie segnet.“ Ginzburg stellt die Bedingungen der Diskussion, die der Müller mit seinen Inquisitoren führte, nicht eigens dar: nicht den Terror, den die Folter- und Todesdrohung auf Menocchio ausübte, nicht die Folgen der Furcht auf Seele und Gedanken dieses Mannes. Dies muß sich der Leser vorzustellen suchen. Doch diese Vorstellungskraft stellt sich, wie eine gewisse Dankbarkeit für die Gegenwart, gleichsam von selber ein.
Carlo Ginzburg: „Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600“. Aus dem Italienischen von Karl F. Hauber. Wagenbach Taschenbuch, 206 Seiten, 19,80 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen