Es soll kein Herzblut mehr fließen

Wie Maßschneider fällten die SPD-Parteitagler Entscheidungen: korrekt und knitterfrei. Und Chef Scharping, der mit seinem Faible für Lauschangriffe knapp einer Niederlage entging, hat in Wiesbaden einen Teampartner gefunden: Oskar Lafontaine.

Am nächsten Tag war die Welt wieder in Ordnung. Als die Delegierten sich gestern pünktlich um 9 Uhr an den außenpolitischen Leitantrag machten und – viel wichtiger – endlich die Wahl des Führungspersonals auf dem Programm stand, erinnerten nur noch die müden Gesichter an den nächtlichen Streit um den Lauschangriff. Mühevoll und mit überraschend dünner Mehrheit hatte sich der Parteitag dazu durchgerungen, ihrem Parteivorsitzenden zu folgen. Nach einer langen Debatte und endlosem Warten auf das Ergebnis der schriftlichen Abstimmung stand um 1 Uhr früh schließlich fest: Mit 196 Ja- gegen 181 Neinstimmen hatte die SPD den Schwenk zum Lauschangriff vollzogen. Rudolf Scharping nahm mit ungerührter Miene zur Kenntnis, wie knapp er an einer Niederlage vorbeigeschrammt war.

Kein Grund zur Aufregung. Denn höchstens aus Gewohnheit, nicht aber weil es stimmt, könnte man nach dieser Debatte von einem Riß, von tiefen Gräben oder Zerrissenheit sprechen. Der große Kompromiß, den die Delegierten des Asyl-Sonderparteitags vor einem Jahr in einem Akt kollektiven Selbstbetrugs ausgehandelt hatten, stürzte die SPD in tiefe Spaltung. Doch ohne große Prophezeiungskunst läßt sich vorhersagen, daß diesem Beschluß irgendwann der politische Vollzug folgen wird. Aber Herzblut, wie beim Asyl, will die SPD nicht mehr vergießen. Herta Däubler-Gmelin, Hennig Scherf, Klaus Traube, Cornelie Sonntag und viele mehr haben um eine andere Position gekämpft. Brav wie zwei Schulbuben, die nicht wissen, was jetzt kommt, hatten Scharping und Lafontaine aufmerksam dem Vortrag von Hans-Jochen Vogel zugehört. Tatsächlich wußten sie natürlich, daß die oberste Instanz in Sachen Rechtsstaatlichkeit bei einem gedämpften Ja enden würde. Es kam allerdings gewunden daher.

Am nächsten Tag übte sich die SPD wieder in Geschlossenheit. Der Parteitag wählte, und er wählte überaus ordentlich.

Der letzte Stolperstein vor dem Gelingen dieses Projekts war am Mittwoch ganz unauffällig aus dem Weg geräumt worden. Die etwas peinliche Lage, nach der ausnahmsweise und in Abweichung von der Satzung, die ihrerseits erst noch geändert werden mußte, fünf statt vier stellvertretende Vorsitzende gewählt werden sollten, hatte hinter den Kulissen für Unmut gesorgt. Hartnäckig hielt sich das Gerücht, hier, an dieser Frage könnten die Delegierten sich sperren. Aus dem rechten Seeheimer Kreis wurde gestreut: So nicht. Aber als es so weit war und Bundesgeschäftsführer Günter Verheugen den Vorschlag des Parteivorstands begründet hatte, wollte niemand darüber diskutieren. Fünf Stellvertreter, bis Herta Däubler- Gmelin Verfassungsrichterin und Johannes Rau Bundespräsident ist – die optimistische Perspektive war in wenigen Minuten beschlossene Sache.

Rudolf Scharping erhielt das zweitschlechteste Wahlergebnis aller Vorsitzendenwahlen nach 1945. Das schlechteste datiert aus diesem Jahr: Es war Scharpings Ergebnis beim Essener Parteitag. Die 79,4 Prozent vom Juni steigerten sich auf 83,8 in Wiesbaden. Die Zufriedenheit in Scharpings Umfeld ist nicht wegen dieser Steigerung keine Schönfärberei. Das Engholm-Debakel hat die Serie der Über-95-Prozent-Ergebnisse in der SPD wohl nachhaltig beendet.

Solche Resultate sind für die elder statesmen der Partei reserviert. Für Johannes Rau also, der auf Standing ovations abonniert ist. Daß die Newcomerin Heidi Wieczorek-Zeul am schlechtesten abschneidet, Däubler-Gmelin als umstrittene Kandidatin für das Verfassungsgericht von ihrer Partei gestärkt und Wolfgang Thierse deutlich besser abschneidet – der Parteitag entscheidet wie ein Maßschneider.

Nur Oskar Lafontaine überrascht wieder mal. Über eine Abwahl, zumindest über ein schlechtes Ergebnis war spekuliert worden, nachdem er sich mit seinen Bemerkungen zu den Ostlöhnen in die Nesseln gesetzt hatte. Als ausgezählt ist, steht indessen fest, daß der wichtigste Parteivize besser abgeschnitten hat als Scharping.

Lafontaine, Berichterstatter des wirtschaftspolitischen Forums und federführend verantwortlich für den wirtschaftspolitischen Leitantrag, hat in Wiesbaden die Delegierten für sich gewonnen. Eine fulminante Rede, ein schlichtes „Ich entschuldige mich“, und die SPD war versöhnt.

Scharping und Lafontaine, das Team. Getreulich nebeneinander während der vielstündigen Lauschangriffdebatte, getreulich als Gespann, das das Herzstück des Parteitags zu gestalten hatte. In der Debatte zum wirtschaftspolitischen Leitantrag hatte Lafontaine die Hauptrolle zu spielen. Trotz umfangreicher Kompromißarbeit im Vorfeld des Parteitags war ein Debatten- und Abstimmungsmarathon nötig, bis die Grundzüge sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik feststanden. Die Parteilinke hatte darauf verzichtet, eine Alternative zur Abstimmung zu stellen. So versuchte sie über den Weg der Einzelanträge, ihre Handschrift sichtbar zu machen. Stärkere Profilierung einer Nachfragepolitik, eine höhere Staatsquote, um mehr staatliche Lenkung zu ermöglichen, Konzentration der Finanzierungsvorschläge auf Steuerhinterzieher, reiche Erben, überhaupt das obere Drittel – so die Linken. Scharping hatte die Kompromisse in der Antragskommission gelassen verfolgt: An der Grundaussage des Antrages ändere das nichts.

Daran hat auch der Parteitag nicht viel verändert. Die Botschaft bleibt gleich: Vorrangig geht es der SPD um die Senkung der Massenarbeitslosigkeit. Lafontaine forderte die Senkung der Staatsschulden, kündigte massive Eingriffe in die konsumtiven (für den Verbrauch bestimmt, im Gegensatz zu investiv; d. Red.) Ausgaben an, der Anstieg der Staatsausgaben müsse künftig geringer sein als der des Bruttosozialprodukts. Mehrfach wies Lafontaine darauf hin, daß es doch „eine Revolution“ sei, wenn Scharping unwidersprochen sagen könnte, Arbeitszeitverkürzungen mit vollem Lohnausgleich werde es nicht mehr geben können.

Doch viel mehr als eine Richtung hat der Parteitag nicht klargemacht. Der Blick geht auf die Mitte, auf die Unions- und die Nichtwähler, und darin will die SPD ihrem Vorsitzenden folgen. Die politischen Aussagen für einen Wahlkampf sind bestenfalls vorformuliert, kaum anders als bei der Außenpolitik, die als letztes Schwerpunktthema gestern beschlossen wurde. Da hat die SPD zwar festgelegt, was sie gut fände. Nach dem Somalia-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das fürs nächste Jahr erwartet wird, wird sich herausstellen, was sie muß. Tissy Bruns, Wiesbaden