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Ein Viertel springt ab

Die Berufsbildung ist zu unattraktiv, meint  ■ Barbara Steuart

Henrik Bauer nimmt die neunzigminütige Fahrt zur Siemens- Ausbildungsstätte ohne Murren in Kauf. Er weiß, es lohnt sich: Während der dreieinhalbjährigen Ausbildung wird Henrik sein Berufsschulwissen auf praxisbezogene Siemens-Projekte anwenden – etwa einen abgasspeienden Trabi in ein umweltfreundliches, solargetriebenes Auto umzuwandeln.

Ab dem zweiten Lehrjahr wird er seine theoretischen Kenntnisse in verschiedenen Fabriken der Firma anwenden. Wenn er die Abschlußprüfung bestanden hat, kann er als Kommunikationstechniker komplizierte Schaltsysteme einbauen, sei es für Atomkraftwerke oder medizinisch-technische Geräte.

Die Deutschen verweisen stolz auf das Duale Ausbildungssystem als Grundlage für das Wirtschaftswunder und die hohe Produktivität der deutschen Wirtschaft. Indem es die betriebliche Praxis mit theoretischer Ausbildung an staatlichen Berufsschulen verknüpft, produziert das Duale System qualifizierte ArbeitnehmerInnen. Im Schnitt arbeiten sie nur 37 Stunden pro Woche, verdienen dabei aber 60 Prozent mehr als ihre amerikanischen Kollegen.

Kein Wunder also, daß der amerikanische Präsident Bill Clinton und sein Arbeitsminister das Duale System als nachahmenswertes Modell für die Vereinigten Staaten anpreisen. Dort beschränkt sich Berufsausbildung meist auf Führungskräfte – auf Kosten von Angestellten und ArbeiterInnen.

Doch Clinton und Co. lassen vor lauter Begeisterung außer acht, wie teuer das Ausbildungssystem die deutsche Wirtschaft zu stehen kommt. Henrik Bauer mag sein Monatsgehalt von 1.200 Mark für zu mickrig halten. Siemens und andere Großfirmen monieren dagegen schon lange, daß sie sich die 120.000 Mark nicht mehr leisten können, die es kostet, aus einem Lehrling einen Facharbeiter zu machen.

„Das Ausbildungssystem ist unanfechtbar, vorausgesetzt, die Ausbildung hält Schritt mit dem technologischem Fortschritt“, sagt Joachim Luchterhand, Leiter der gewerblichen Bildung bei Siemens. „Aber es muß bezahlbar bleiben.“

Nur wenige Firmen stecken so viel Geld in die Lehrlingsausbildung wie Siemens. Vor allem kleine und mittelständische Firmen können sich das oft nicht leisten. Die Bundesländer tragen die Kosten für die Berufsschulen, wo Auszubildende ungefähr ein Drittel ihrer Zeit verbringen. Die Bundesregierung finanziert darüber hinaus überbetriebliche Ausbildungsstätten, die von der Industrie- und Handelskammer getragen werden. Lehrlinge lernen dort, was oft in kleineren Firmen nicht vermittelt werden kann. Dazu zahlt die Bundesregierung jährlich noch 42 Millionen Mark für das Bundesinstitut für Berufsbildung in Berlin. Das Institut ist dafür verantwortlich, die Ausbildungskriterien und Vorschriften für ungefähr 350 verschiedene Lehrgänge zu definieren.

Die Wirtschaftsflaute veranlaßte Siemens und viele andere Firmen dieses Jahr, weniger Lehrlinge einzustellen. Der Konzern versuchte die Kosten zu drücken, indem er die Ausbildungsdauer von derzeit dreieinhalb auf drei Jahre verkürzte. Am Bundesinstitut für Berufsbildung hält man das insgeheim für eine gute Idee. Aber da Änderungen der Ausbildungsverordnung abgestimmt werden müssen mit Gewerkschaften, Arbeitgebern, Bund und Ländern, könnte es eine Weile dauern, bis die Lehrzeit gekürzt wird. Das Institut selbst braucht oft an die zehn Jahre – im Schnitt drei bis fünf –, um das Berufsbild eines der 350 verschiedenen Ausbildungsgänge zu ordnen, sagt Helga Foster, die Auslandsbeauftragte des Bundesinstituts. „Das dauert viel zu lange.“

Eine Untersuchung des Bundesinstituts im Jahr 1991 ergab, daß fast 25 Prozent der befragten ArbeitnehmerInnen meinten, sie würden im Beruf wenig oder gar nichts von dem in der Lehre Erlernten anwenden – 56 Prozent meinten allerdings, daß sie ziemlich viel vom Erlernten gebrauchen könnten.

25 Prozent der Lehrlinge steigen vorzeitig aus den Lehrverhältnissen aus. Das ist ein weiterer Indikator dafür, daß das Duale System es schwer hat, mit den Marktveränderungen Schritt zu halten. Das gilt besonders für Berufe im Handel, etwa Lehrstellen für Frisörinnen (51 Prozent steigen aus), Maler (46 Prozent) und Verkäuferinnen (38 Prozent). Offensichtlich legen Lehrlinge keinen Wert darauf, ihre Zeit mit einer dreijährigen Lehre für einen Beruf zu verbringen, der geringe Bezahlung und wenig Aufstiegschancen verspricht. Begehrt sind dagegen bei den Schulabgängern Ausbildungsplätze im Bank- oder Versicherungsgewerbe: Jobs mit „weißem Kragen“, die allgemein besser bezahlt sind und ein höheres Ansehen haben.

Um die Lehrlingsausbildung attraktiver zu machen, meint Helga Foster, sollten Azubis ihre abgeschlossene Lehre auf das Hochschulstudium anrechnen können. Das würde den Stellenwert der „zweitrangigen Lehre“ erhöhen und clevere Jugendliche auf die Ausbildungsplätze locken.

Die Autorin ist eine amerikanische Journalistin, die als Arthur-Burns- Stipendiatin bei der taz arbeitete. Sie schrieb den abgedruckten Text für ein US-Blatt.

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