Indiens Wahlen als Jahrmarkt

Sechs Provinzparlamente werden neu gewählt / Test für die Regierung Rao / Kastenzugehörigkeit wichtiger als Religion  ■ Aus Neu-Delhi Bernard Imhasly

Bereits zum dritten Mal in drei Jahren gehen die Bürger der nordindischen Gliedstaaten Himachal Pradesh, Madhya Pradesh, Mizoram, Rajasthan, Uttar Pradesh und – erstmals als Bundesstaat – von Delhi in diesem Monat an die Urnen. Während mit der Bekanntgabe der Resultate bis zum letzten Durchgang gewartet wird, signalisieren die Angaben über die hohe Stimmbeteiligung keine Anzeichen von Wahlmüdigkeit. Wahlen in Indien vermitteln nie den Eindruck einer lästigen Pflichterfüllung. Vielmehr gleichen Wahlkämpfe eher einem Jahrmarkt, bei dem die Wähler ihre Rolle als Schiedsrichter über die Auftritte der politischen Trapezartisten und Clowns sichtlich genießen. Wochenlang werden Städte und Dörfer mit Musik, Hörspieldialogen und Wahlrhetorik aus Lautsprechern eingedeckt.

Die Popularisierung des Fernsehens bis in die abgelegenen Dörfer hat die Parteien gezwungen, ihre visuelle Präsenz massiv zu verstärken. Zunehmend werden von den Parteien Filmschauspieler angeworben, um das Publikum anzulocken. Wer sich keinen Star leisten kann, mietet einen Video-Bus und serviert ihn als Dorfkino. Das Publikum reagiert vielmehr wie der Bauer auf einer Zeichnung des populären Karikaturisten R.K. Laxman, der in der Ferne die Autokolonne eines Kandidaten nahen sieht und kopfschüttelnd meint, wie schnell doch die Zeit vergehe; schon seien wieder fünf Jahre – die Dauer einer Legislaturperiode – verstrichen.

Immerhin hat diese Inszenierung des demokratischen Grundrituals in Form von Roadshows geholfen, den scharfen ideologischen und sozialen Gegensätzen zwischen Parteien und Kandidaten den Stachel zu nehmen. Dies gilt auch für den laufenden Wahlkampf, obwohl Ursache, Zeitpunkt und Geographie des Urnengangs auch für die nationale Politik von Bedeutung sind. Mit Ausnahme von Mizoram, dem kleinen Stammesstaat im äußersten Nordosten Indiens, und der Hauptstadt Delhi wurden die Wahlen nötig, weil Premierminister Rao die vier radikalen hinduistischen BJP-regierten Provinzregierungen vor einem Jahr entlassen hatte. Der Schock der Zerstörung der Moschee von Ayodhya und die Mitschuld der Hindu-Partei hatte ihn damals zu diesem Schritt bewogen.

Im Gefolge dieser Ereignisse war es allerdings die BJP gewesen, die aus diesem verfassungsfeindlichen Racheakt am meisten Gewinn schlug. Statt sich für den Vandalismus in Ayodhya zu entschuldigen, verkaufte sie die Schleifung der sakralen Stätte als historische Wiedergutmachung für Jahrhunderte muslimischer Unterdrückung. Es war ein Argument, das besonders in Nordindien mit seiner langen Geschichte religiöser Spannungen, auf fruchtbaren Boden fiel. Man konnte daher erwarten – und befürchten –, daß die Neuwahlen unter dem Zeichen Ayodhyas ausgefochten werden.

Dies war jedoch nicht der Fall. Die Parteien überschlugen sich mit teuren und spektakulären Wahlveranstaltungen, um die vermeintliche Stimmüdigkeit zu bekämpfen. Und die scharfzüngigen Slogans machten bald der Unterhaltung Platz, als die Parteimanager spürten, daß die Empfänglichkeit der Wähler für religiöse Rhetorik gering war. Vor allem die BJP mußte zur Kenntnis nehmen, daß mit dem Wegfall des Streits um die Moschee auch der wichtigste emotionale Sammelpunkt aus ihrer Agenda gefallen war. Ohne die befürchtete religiöse Konfrontation trat mit der Kastenzugehörigkeit wieder das alte politische Orientierungsmuster in den Vordergrund. Dies wurde besonders in Uttar Pradesh augenfällig, das angesichts seiner Größe auch für die nationale Politik von entscheidender Bedeutung ist.

Die vier wichtigsten Parteien, die sich im indischen Herzland, gegenüberstehen, haben denn auch versucht, mit Hilfe der Kastenarithmetik ihre Wahlchancen zu verbessern. Ausgelöst wurde dieser Trend durch den ehemaligen Chefminister Mulayam Singh Yadav, der sich mit dem kastenlosen Politiker Kanshi Ram zusammentat, um mit den Stimmen der unteren Kasten in Lucknow wieder an die Macht zu kommen. Dies bewog die Janata Dal unter Ajit Singh und dem ehemaligen Premierminister V.P. Singh, die Bauernkaste der Yadavs zu umwerben, die vor allem im Westen des Staates über ein beträchtliches Stimmenpotential verfügt.

Die Kongreßpartei ihrerseits, die in ihrer ehemaligen Parteibastion 1991 auf zehn Prozent der Sitze zurückgefallen war, folgte diesem Trend. Sie versuchte, ihre Stammwählerbasis – die Brahmanen und die kastenlosen Harijans – wieder hinter sich zu scharen. Alle drei Parteien bemühen sich auch um die Muslime, die traditionell als Block wählen und aufgrund ihrer Konzentration in bestimmten Wahlkreisen dort ein überproportionales Stimmengewicht haben.

BJP als Partei der Mitte?

Selbst die BJP, die in der Kastenaufsplitterung die Ursache für die Schwäche der Hindus sieht und diese daher bekämpft, konnte sich nicht ganz von diesem Orientierungsmuster lösen. Sie ist sich ihrer herkömmlichen Anhängerschaft, den städtischen Händlerkasten, relativ sicher und attackierte daher im Wahlkampf besonders den ehemaligen Chefminister Kalyan Singh, einen Kastenlosen, den sie bei Wahlauftritten pointiert mit brahmanischen Mönchen umrahmte. Dennoch war sie die einzige Partei, die die Tätigkeit der Regierung Rao zum beherrschenden Wahlkampfthema machte.

Ihr Führer L.K. Advani gibt sich siegessicher: Da die BJP von allen anderen Parteien bekämpft werde, zersplitterten sich deren Wähler. Dies, so meint der Parteichef, werde es der BJP erlauben, mit einer relativen Mehrheit der Stimmen eine absolute Mehrheit der Sitze zu gewinnen. Tatsächlich hat dies die Kongreßpartei bis heute zur „natürlichen“ Regierungspartei gemacht. Umfragen zeigen, daß die BJP sie nun aus dieser Position verdrängt hat. Der Sieg in diesen Regionalwahlen ist daher nur ein weiterer Schritt zur Wachablösung in Delhi, und das Dämpfen der schrillen religiösen Rhetorik verrät auch die Bemühung, sich dem Wähler als verantwortungsvolle nationale Alternative anzubieten.

Falls es Premierminister Rao allerdings gelingen sollte, auch nur in einem der vier früheren BJP-Staaten eine Mehrheit zu gewinnen – oder ihr eine solche zu versagen –, käme dies einer Niederlage der BJP gleich. Sie würde Raos Chancen entscheidend verbessern, weiterhin unangefochten zu regieren.