piwik no script img

Spirituelle Verwirrung

Der tschuwaschisch-russische Dichter Gennadij Ajgi über Tradition, Folklore und die postmoderne Lyrik der jüngeren Generation  ■ Von Irena Maryniak

Irena Maryniak: Ihre Gedichte sind im Westen bekannt, und auch in Rußland haben Sie in letzter Zeit beträchtliche Anerkennung erfahren. Warum wurden Sie zu Sowjetzeiten so wenig publiziert?

Gennadij Ajgi: Die sowjetische Gesellschaft überlebte durch Sprachregelungen, für die natürlich die Machthaber verantwortlich waren. Gleichzeitig gab man sich auch einer gewissen Selbstgerechtigkeit hin, in der Worte nichts mehr wirklich bedeuteten. Der gedankenlose Wortgebrauch wurde Teil der Bedingung für die Illusion, in der man lebte: Alles ist in Ordnung und nichts zu befürchten, solange die Sprache mitmacht. Wir waren Sprach-Mitläufer. Jeder ungewöhnliche Ausdruck war sofort eine Bedrohung. Unter diesen Bedingungen mußte sich poetische Sprache mit den wesentlichen Themen beschäftigen: Leben und Tod, das Hin- und Hergerissensein des Menschen zwischen beidem, seine Wahrnehmung ihres Wesens, seine Vorbereitung auf den Tod.

Sie schreiben auf Russisch, aber Ihr Ursprung liegt im Tschuwaschischen. Gelegentlich treten Sie öffentlich als Vertreter der tschuwaschischen Literatur auf, und Ihre Lyrik enthält manchmal spezifisch tschuwaschische Motive. Wie paßt das zusammen?

Ich hatte nie die Absicht, die Bilder und Folklore der tschuwaschischen Kultur auszubeuten. Exotismus habe ich immer vermieden. Aber ich habe in den letzten zehn Jahren begriffen, wie sehr die Tiefe, das Geheimnis und die Farbe meiner Dichtung in tschuwaschischer Tradition verankert sind. Mir ist in allem, was ich tue, Natur immer gegenwärtig. Ich kann mir weder Dichtung noch Fühlen, noch Denken ohne Natur vorstellen. Sie durchdringt alles. Ich habe sehr viel über tschuwaschische Folklore gearbeitet. Als ich jung war, habe ich sie vermieden, die Formen erschienen mir zu primitiv. Aber dann habe ich langsam verstanden, daß das Wichtigste an Folklore ist, wie sie die Einheit von Ethik und Ästhetik behandelt. In der Volkskultur dominiert nicht das eine das andere, sondern beides verschmilzt zu einem Ganzen. Ich glaube, das hat mich am meisten beeinflußt. Und das Gefühl der Brüderlichkeit, die Wahrnehmung des Lebens als Leben einer einzigen menschlichen Familie. Die Romantik, die die europäische Lyrik immer noch prägt, hat sich in eine Art Persönlichkeitskult transfomiert. Nicht in einem theologischen Sinne; sondern in der Art, daß Literatur dem Dichter als Individuum eine zu hohe Stellung einräumt. Er kümmert sich nicht um andere: Er erklärt dem Rest der Welt den Krieg. Mir ist das fremd. Was ich will, ist ähnlich dem, was Mallarmé wollte: die Stimme der Alten heraufbeschwören. Das ist heute gar nicht so einfach. Wir sind von unseren Vorfahren und von der Natur getrennt worden. Die europäische – und auch die russische – Lyrik hat viel dazu beigetragen, uns von der Natur zu entfremden und unsere Trennung auch untereinander zu verfestigen. Es fällt mir schwer, das zu akzeptieren.

In einigen Teilen Sibiriens spielt die Verehrung der Natur und der Vorfahren im täglichen Leben noch eine große Rolle. Gilt dies auch für die Tschuwaschskaja?

Die Bekehrung zum griechisch- orthodoxen Glauben fand in der Tschuwaschskaja erst im 16. Jahrhundert statt. Und der Prozeß dauerte 300 Jahre. Der Einfluß des tschuwaschischen Pantheismus ist als eine ganz bestimmte kulturelle und psychologische Synthese bis ins 20. Jahrhundert zu spüren. Die spirituelle Verfeinerung, die das Christentum mit sich brachte, ist in der neueren Folklore spürbar, aber die pantheistische Weltsicht ist deshalb nicht verschwunden. Ein Gefühl für die Omnipräsenz der Gottheit im Wasser oder im Wald ist geblieben. Ein Tschuwasche weiß, daß der Fluß ein Gott ist, daß der Wald spricht, daß auch er ein Gott ist und unsere Vorfahren in seinen Bäumen verkörpert sind. Sonne und Mond sind personifizierte Lebewesen. Ein tschuwaschisches Kind wächst in einer Umwelt auf, die von den Kräften der Natur bestimmt ist; es weiß sehr genau, wie man sich da verhal

Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung

ten muß. Man muß seine Gedanken über die Sonne hüten, dem Mond mit Aufmerksamkeit begegnen, aufpassen, wo ein Baum auf dem Feld steht, denn er könnte der Vater sein oder die Mutter oder der Geliebte. Dieses animistische Verhältnis zur Umwelt stellt eine nahezu unaufhebbare Verbindung zwischen Mensch und Natur her. Natürlich hat auch schon Verlust eingesetzt. Es gibt ökologische Probleme. Und dennoch ist die pantheistische Tradition sehr stark geblieben. Und ganz gewiß hat sie meine Dichtung beeinflußt.

Spiegelt sich diese Tradition auch in den Familienbeziehungen?

Ein tschuwaschisches Sprichwort sagt: Die Mutter ist der Gott. Nicht eine Göttin, sondern Gott. Tschuwaschische Historiker und Ethnographen betonen oft die bis heute sichtbare matriarchale Seite der tschuwaschischen Kultur. Der Mann muß aufs Feld, die Frau ist Zentrum des Lebens im Haus. Den Mann stört das in der Regel nicht. Diese Auffassung von der Mutter als Gott hat die Erziehung stark beeinflußt und auch das Verhältnis zur Mutter. Der Vater ist mehr Personifizierung der Kräfte der Natur. Zum Beispiel wird der Donner immer noch als Alt-Vater bezeichnet.

Wie kommt es, daß Sie trotz dieser Nähe zur tschuwaschischen Kultur beschlossen haben, auf Russisch zu schreiben?

Russisch ist nicht meine Mutterspache, sie ist meine zweite Sprache, und diese Entscheidung war moralisch und psychologisch sehr schwierig. Ich habe 1960 angefangen, auf Russisch zu schreiben. Als ich Anfang der fünfziger Jahre nach Moskau kam, kannte ich außer Majakowski keinen russischen Dichter des 20.Jahrhunderts. Ich kannte weder Aleksandr Blok noch Boris Pasternak, und als ich sie entdeckte, war ich völlig überwältigt. Der Schock war gewaltig. Ich lernte Baudelaire 1955 kennen; 1956 war ich sehr von Nietzsche beeinflußt, nicht von ihm als Moralisten, sondern als genialem Ästhetiker. Später kamen Pascal und die russischen Philosophen (Wladimir Solowew, Pawel Florensky) hinzu. Sie alle haben mein Schreiben stark beeinflußt, besonders Baudelaire und Pasternak. Mit ihm war ich später eng befreundet.

Meine Arbeiten von 1954 und 1955 hatten großen Einfluß. Ich führte eine Form des freien Verses in die tschuwaschische Dichtung ein, aber innerhalb von drei, vier Jahren hatte ich alles getan, was ich tun konnte. Die jüngeren Dichter konnten da nicht anknüpfen, denn nur drei oder vier Freunde wußten, was ich machte. Es gab in der Tschuwaschskaja keinen Samisdat, und schließlich machte es keinen Sinn mehr für mich, weiterzumachen. Nach 1958 wurde ich wegen des Pasternak-Falles aus den literarischen Kreisen ausgeschlossen. Nach Hause konnte ich nicht zurückgehen, dort wäre mein Leben in Gefahr gewesen. Also blieb ich ohne Aufenthaltserlaubnis und ohne Geld einfach in Moskau. Nachts schlief ich auf Bahnhöfen. 1959 traf ich auf eine Gruppe von Untergrundkünstlern, Schriftstellern und Musikern. Das hat mich gerettet. Wir hatten die gleichen Interessen und Anliegen. Wir entdeckten zusammen die Arbeiten von Malewitsch und Tatlin. Wir lebten eng miteinander, hatten Spaß, ich konnte dem Rätsel des Lebens in dieser Gemeinschaft wieder auf den Grund gehen, konnte ein Gefühl der Einheit und Brüderlichkeit mit anderen, mit dem Universum und mit der Natur wiederfinden, konnte spüren, daß die Welt ein Geschenk ist, ein Wunder. Pasternaks Weltsicht war eine große Inspiration für mich.

Daß ich dann zur russischen Sprache kam, war irgendwie nur natürlich. Pasternak kannte meine Gedichte und meine Übersetzungen aus dem Tschuwaschischen ins Russische. Er ermutigte mich, auf Russisch zu schreiben. Das war eine schwierige Entscheidung, aber zwischen beiden Sprachen weiterleben konnte ich auch nicht. Die eine Kultur für die andere aufzugeben, wäre dennoch wie ein Verrat gewesen; ich fühlte mich auch weiterhin für die tschuwaschische Literatur verantwortlich. Also übersetzte ich weiter ins Tschuwaschische: französische, polnische und ungarische Gedichte. Meine Anthologie französischer Lyrik von Guillaume de Lorris bis Yves Bonntoy erschien 1968 und war für die Europäisierung der tschuwaschischen Literatur ganz wichtig. Die jüngere Generation tschuwaschischer Dichter ist immer noch sehr von französischer Literatur beeinflußt.

Welche Entwicklungen sehen Sie in der zeitgenössischen tschuwaschischen Dichtung?

Einige jüngere Schriftsteller finden, daß man das Alte wiederbeleben muß. Ihre Arbeiten tendieren dabei zum Didaktischen und sind, literarisch gesehen, nicht sehr gelungen. Sie nehmen alte Sprichwörter und Maximen und reimen sie neu. Es gibt auch städtische Motive, Volksdichtung ist weiter wichtig. Aber es dominiert eine Art Post-Modernismus – freie Verse im europäischen Stil mit Wurzeln in der alten, vorchristlichen Tradition tschuwaschischer Dichtung. Einige der jungen Dichter haben dieses „neue Heidentum“ leider zu einer Revolte gegen alles Russische und Christliche gemacht. Sie werben für die Idee, daß unsere heidnische Tradition besser war und besser zu uns paßte. Sie wollen eine eigene tschuwaschische Identität und Geschichte wiederbeleben. Aber ihre Arbeiten sind blaß und stilisiert, eine Art pseudo-spirituelle Selbstbefriedigung. Das alles stiftet nur Verwirrung.

Eine wirklich bedeutende Entwicklung in der tschuwaschischen Literatur sind die Arbeiten, die sich auf die europäische Tradition beziehen, Gedichte, die zwar nach einer national spezifischen Literaturform suchen, dabei aber die universalen, wesentlichen tragischen Wahrheiten auszudrücken versuchen. Da liegt die Zukunft. Statt dessen entsteht ein regressiver und aggressiver Nationalismus.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen