: Ursache Mietschulden
■ Was fehlt, sind gezielte Maßnahmen zur Verhinderung von Obdachlosigkeit
Die Zahl der Obdachlosen steigt, doch ganz genau weiß es niemand. Denn eine Statistik gibt es nicht. Will man es so genau etwa gar nicht wissen? Seit Mitte der 80er Jahre fordert die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG) eine Wohnungsnotfallstatistik. Sie könnte analog zum Arbeitsmarktbericht die Unterversorgung mit Wohnraum dokumentieren. Doch Bundesbauministerin Irmgard Schwaetzer (FDP) äußerte bei einem Gespräch mit BAG-Vertretern am 8. November Zweifel, ob angesichts der Sparpläne Gelder für eine neue Statistik aufzutreiben seien. Zweifel hatte sie auch daran, ob die Obdachlosen überhaupt methodisch zu erfassen seien.
Für BAG-Geschäftsführer Heinrich Holtmannspötter sind dies „Scheinargumente“. Nach Erhebungen seiner Organisation sind derzeit im Westen 850.000 Menschen obdachlos. Für den Osten gibt es gar keine Zahlen. „Dort sind über kurz oder lang 200.000 Obdachlose zu erwarten“, schätzt er. Denn mittlerweile seien Wohnungsbaugesellschaften, Kommunen und Gerichte organisatorisch in der Lage, den säumigen Mietern mit Räumungsklagen zu Leibe zu rücken. Ob Ost oder West: Ursache der Obdachlosigkeit sind in 70 bis 80 Prozent der Fälle Mietschulden. Etwa 150.000 Menschen leben nach dem Verlust ihrer Wohnung auf der Straße, rund 700.000 leben in Provisorien. Daß die Unterbringung in Notunterkünften nur eine Notlösung sein kann, sieht auch die Bundesbauministerin ein. Doch ein schlüssiges Konzept gegen Obdachlosigkeit hat sie nicht. Sie will jetzt ein Forschungsfeld „Dauerhafte Wohnungsversorgung von Obdachlosen“ einrichten. Den Länderbauministern wird sie bei der Bauministerkonferenz im Dezember vorschlagen, einen Anteil der Mittel für den sozialen Wohnungsbau für gezielte Maßnahmen zur Verhinderung von Obdachlosigkeit einzusetzen. Ihr Vorschlag, Wohnungen in einfachem Standard für Obdachlose bauen zu lassen, die später qualitativ nachgerüstet werden könnten, stieß bei den Verbänden jedoch auf einhellige Ablehnung. „Wir müssen auf die Eigentumsförderung verzichten und diese Mittel in den sozialen Wohnungsbau stecken“, fordert Holtmannspötter. Doch diese „180-Grad-Wende“ ist von der Ministerin nicht zu erwarten, lediglich kleine Korrekturen am System. So hat sie den Vorschlag aufgegriffen, Kommunen, Wohlfahrtsverbänden, Kirchen und anderen gemeinnützigen Trägern durch zinsgünstige Darlehen zu ermöglichen, in den sozialen Wohnungsbau einzusteigen. Eine entsprechende Ergänzung des Wohnungsbaugesetzes will sie prüfen lassen. Dorothee Winden
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