■ Ein Gangsterkrieg nimmt immer wildere Formen an
: Chicago in Estland

Tallinn (taz) – Wenn Estlands Ministerpräsident Mart Laar am Sonntag seine Innenministerin Lagle Parek entließ, so hofft er offensichtlich auf eine Signalwirkung: Die Regierung wird jetzt endlich hart gegen die Kriminalität vorgehen. In Estland herrschen seit Monaten Zustände, die an das Chicago der zwanziger Jahre erinnern: Die Mörder warten im Auto, einige Salven aus einer Kalaschnikow, das Auto verschwindet in der Nacht, und niemand traut sich, etwas gesehen zu haben. Mehr als 50 der fast 300 Morde der letzten zehn Monate gehen auf das Konto des Gangsterkrieges.

Zwei Sparten florieren geradezu im estnischen Wirtschaftsleben: das Schutzgewerbe und der „Schrott“-Handel. Zehn bis 15 Prozent des Umsatzes müssen Laden- und Kneipenbesitzer an Schutzgeld löhnen, damit ihnen die Rollkommandos der meist russischen Mafia nicht die Einrichtung plattmachen und sie krankenhausreif schlagen. Hunderte von Geschäftsleuten zahlen an die Gangsterbanden, der Rest zahlt an ehemalige Soldaten oder seriöse Wachunternehmen, um sich gegen die Schutzgelderpresser-Ligen abzusichern. Die Polizei ist schlecht ausgebildet, völlig überfordert und bei Hungerlöhnen mehr als anfällig für Korruption.

Der „Schrott“-Handel ist das andere lohnende, aber auch extrem gefährliche Gewerbe; mit Schrott sind im wesentlichen in Rußland gestohlene Metalle wie Kupfer, Nickel und Eisen gemeint. Die Metalle werden über die Grenze nach Estland geschmuggelt und teuer in den Westen verkauft. Der gar nicht so heimliche – und natürlich völlig unwissende – King der Schrotthändler ist eine Queen. Sie heißt Tiiu Silves, war früher Mathematiklehrerin, hat den letzten KGB-Chef Estlands, einen pensionierten General, als engsten Mitarbeiter. Sie ist steinreich und läßt sich und ihre Villa von einer kleinen Privatarmee bewachen.

Das Rezept der jetzt geschaßten Innenministerin Lagle Parek gegen die Kriminalität war: bessere Waffen für die Polizei und eine Selbstorganisation und Bewaffnung der Bevölkerung in Mitbürgerschutztrupps. Vorschläge einer Frau, die als eine der letzten politischen Gefangenen der sowjetischen Zeiten aus der Haft entlassen worden war. Rezepte, die der Regierung aber offenbar nicht effektiv genug waren. Die EstInnen warten nun, welche Wunderwaffen ihrE NachfolgerIn auffahren will.

Derweil hat am Montag in Stockholm ein schwedischer Geschäftsmann alle AusländerInnen gewarnt, in Estland zu investieren. Seine vor zwei Jahren errichtete Fabrik zum Bau von Plastikbooten hatte ihm eine Gangsterorganisation „enteignet“. Alle Maschinen und Datoren ließ er zurück und verließ aus Angst um sein Leben letzte Woche fluchtartig das Land. Die Polizei hätte nur die Achseln gezuckt. Reinhard Wolff