Der finale Kaufrausch Von Andrea Böhm

Die USA sind ein gottgläubiges Land ohne Ladenschlußzeiten. Also hielt ich es, als atheistische Konsumentin, anfangs für eine gute Idee, am Sonntag ins Einkaufszentrum zu fahren, wenn die anderen in der Kirche sind und auf der Autobahn keine Verkehrsstaus anrichten können. Diese These erwies sich schnell als haltlos, was mir allerdings schon beim Anblick der Außenfassade vieler Shopping Malls hätte auffallen müssen, die eine markante Ähnlichkeit mit Tempeln haben. AmerikanerInnen gehen sonntags nicht mehr in die Kirche, sondern ins Einkaufszentrum. Das erklärt auch, warum der amerikanische Einzelhandel jeden Feiertag mit einem Schluß- und Ausverkauf begeht. Folglich befindet sich das ganze Land in einem Zustand des permanenten Sonderangebots. Und letzten Donnerstag begann das Finale. Thanksgiving, jener Feiertag, an dem mit einem nationalen Truthahngelage die Entwicklungshilfe der Indianer für die ersten Siedler gefeiert wird, ist der Startschuß für den Konsumendspurt bis Weihnachten. In den ingesamt 40.000 Shopping Malls, von denen einige Kleinstadt-Format haben, wimmelt es nun von Weihnachtsmännern und Weihnachtselfen: Es gibt Rolltreppen- Elfen, Aufzug-Elfen, Kassen-Elfen, Christbaum-Elfen, Grabbeltisch-Elfen und Notausgang-Elfen. Sie alle haben die Aufgabe, die anstürmenden Massen von Eltern mit ihren Kindern irgendwie zum Weihnachtsmann zu lotsen, damit der ihre Wünsche entgegennehmen kann. Der Job erfordert nicht nur den Mut, sich komplett lächerlich zu machen, sondern auch größte physische Fitneß. Denn in der Vorweihnachtszeit setzt in den USA das ein, was man combat shopping nennt. Damit ist die vorläufige Suspendierung aller zivilen Umgangsformen beim Warenankauf gemeint, die in den USA normalerweise sehr viel ausgeprägter sind als in Deutschland.

Über Shopping Malls ist viel gelästert worden. Kalte, künstliche Konsumhöhlen, in den Menschen nur noch raffen, aber nicht mehr miteinander reden. Zugegeben: Ein Revival der griechischen Agora findet in diesen Reizüberflutungsanstalten nicht statt. Wer sich hier im Diskurs versucht, ist entweder bezahlt oder wird rausgeschmissen, weil er die KonsumentInnen beim Kaufen stört. Doch wenigstens sehen sich die Leute noch von Angesicht zu Angesicht.

Diesen Vorgang soll man nun nicht mit visueller Kommunikation verwechseln. Wenn diese erst ihren Siegeszug antritt, dann ist es mit dem zwischenmenschlichen Kontakt beim Shopping vorbei. Stargazer heißt das neue System, mit dem die Telefongesellschaft Bell Atlantic im nächsten Jahr die KundInnen zum Einkaufsbummel anregen will. Die müssen ihre eigenen vier Wände nun gar nicht mehr verlassen – vorausgesetzt, ihr Hausrat beinhaltet einen Fernseher und eine spezielle Fernbedienung, mit der sie sich auf dem Bildschirm durch die Geschäfte zappen und per Knopfdruck eine Salamipizza, ein Video, die neue CD von Janet Jackson oder das neue Mountainbike kaufen können. Das Video oder die CD kann man sich per Computerbefehl sofort einspielen lassen. Pizza und das Mountainbike müssen noch von Mensch zu Mensch geliefert werden. Nächstes Jahr also könnten die Verkehrsstaus tatsächlich nachlassen. Aber ich bleibe nicht zu Hause. Ich will meine Notausgang-Elfe sehen.