piwik no script img

■ Wolfgang Neuss zum SiebzigstenVom Wirtshaus im Spessart zur Politik der Ekstase

Anfang der 70er zog er sich in eine leere Wohnung zurück – kein Kabarett, keine Filme, keine Auftritte mehr. „Wie werde ich unbekannt?“ lautete sein Programm. Was der Neuss denn mache, wo er steckte, das war, wie die Zeit 1974 formulierte, „jahrelang die nationale Frage“. Deutschlands Kabarett-Schnauze Nr. 1 war abgetaucht. Für Medienskandale – einst eine Spezialität des Wolfgang Neuss – sorgte in dieser Zeit allenfalls sein Aussehen, das die Journaille dann und wann unter „zahnloses altes Weib“, „Indianersquaw“ usw. ausschlachtete.

Zurückgeholt in die Öffentlichkeit wurde Neuss von Leuten, die während der Hoch-Zeiten seiner Popularität in den Fünfzigern und Sechzigern noch in den Kinderschuhen steckten. Werner Pieper veröffentlichte 1979 ein langes Interview in seinem Ur-Ökomagazin Humus, der Kreuzberger Stechapfel-Verlag brachte Anfang der Achtziger Neuss'sche Statements über Hausbenutzer („Das sind keine Besetzer, die benutzen doch nur etwas, was ungenutzt rumsteht“) auf Kassette heraus – und wir wollten von ihm gern eine wöchentliche Kolumne für die taz. „Wenn ich für euch schreiben soll, bedeutet das, daß du mindestens zweimal die Woche hier vorbeikommen mußt – zuerst das Thema besprechen, den neuesten Klatsch berichten und dann den Text abholen und das Geld vorbeibringen. Und natürlich hier mit mir sitzen und rauchen.“

Letzteres stellte sich zu Anfang als die größte Schwierigkeit dar, denn in jedem einzelnen der Neuss'schen Joints steckte die ganze Wochenration eines Normalverbrauchers. Oft schon nach wenigen Zügen dämmerten die Besucher völlig entspannt vor sich hin, während Neuss mit jeder neuen Tüte wacher, witziger, spritziger wurde. Außer einigen indischen Sadhus, die ihren Gott Shiva durch rituelles Hanf- Rauchen verehren, hat wohl selten jemand im Abendland dem holy smoke in solchen Mengen und mit solcher Meisterschaft zugesprochen. Eine Leistung, die zum siebzigsten Geburtstag nicht unerwähnt bleiben soll, gerade weil sie gesellschaftlich nicht anerkannt ist. „Ich rauche den Strick, an dem ich hängen würde“ – Hanf war für Neuss die Medizin, mit der er sich von jahrzehntelangen Alkohol- und Tablettenexzessen kuriert hat. Und mit der er, auf dem Boden im Schneidersitz, mal wieder zwischen allen Stühlen hockte: Als Schlachtergeselle schoß er sich 1943 im Schützengraben einen Finger ab („...eine gute Friedensbewegung“), um wehruntauglich im Lazarett Witze erzählen zu können; als Filmstar und Publikumsliebling der Adenauer-Ära machte er sich mit scharfer politischer Satire unmöglich, als wortgewaltige Ein-Mann- Opposition und Apo-Unterstützer verprellte er Aktivisten und Kader mit seinem Ausstieg ins Private. „Ich konnte meinen eigenen ekelhaften Ton, dieses dauernde Protestieren, nicht mehr hören.“

Neuss betrachtete seinen Abgang nicht als Ausstieg, sondern als Einstieg in eine höhere Ebene. „Schreiben, Sprechen, Schweigen“ – so hat er (mit Tucholsky) die Entwicklungsstufen geistiger Produktion skizziert. Um derart hehre, asketisch-ekstatische Programme sogleich wieder vom Sockel zu holen: „Heut' mach' ich mir kein Abendbrot, heut' mach' ich mir Gedanken.“

„Das paradoxe Interesse an dem verfrühten Aussteiger hält an“, notierte der Spiegel 1983 zum 60. Geburtstag – doch nicht das Interesse war paradox (denn Witzbolde in Deutschland ließen und lassen sich per Hand abzählen), es war das Interesse an einem Paradox: einer Präsenz, die sich ununterbrochen abschaffte, einem Wahr-Sager, der sich dauernd widersprach, einem Komiker, der Ernst machte mitten im Spaß, einem stand-up-philosopher, der Wahrheit und Weisheit stets mit hundsgemeiner Posse in Frage stellte – ein Kyniker, wie er nicht im blutarmen akademischen Buche steht, sondern wie er leibte und lebte: Diogenes von Charlottenburg.

„Nur wer sich ändert, bleibt sich treu“ – nicht nur Wolf Biermann, der Neuss seine ersten BRD- Auftritte verdankte, auch viele andere alte Freunde konnten (oder wollten) die radikalen Änderungen nicht nachvollziehen, mit denen Neuss sich bis zum Ende treublieb. Zahnlos, aber bissig, rauschumwölkt, aber auf dem Punkt und blitzgescheit, als Vor- und Nach- Denker, Abfahrer und Anmacher, als kleines, aber konstantes öffentliches Ärgernis. Die Talk-Show, zu der er sich 1983 nach über einem Jahrzehnt TV-Abstinenz überreden ließ, wurde zwar als beste Live- Sendung des Jahres ausgezeichnet, was er dem Regierenden „Ritchie“ (v. Weizsäcker) dort erzählte („Auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen!“), brachte ihm später eine Hausdurchsuchung und Verurteilung wegen Haschisch-Besitz ein. Nur sein Krebsleiden verhinderte, daß auch die zur Bewährungsauflage gemachten Urinkontrollen erzwungen wurden – so ging man um in Berlin mit dem letzten Exemplar einer seit dem Mai 1989 nun völlig ausgestorbenen Art: der dissidenten Berliner Schnauze mit Herz und Hirn.

Aus Anlaß des 70. Geburtstags bringt die ARD morgen (auf B1 und teilweise auf WDR 3) eine lange Wolfgang-Neuss-Nacht, mit seinen beiden wichtigsten Filmen („Wir Kellerkinder“, „Genosse Münchhausen“), Programmen („Das jüngste Gerücht“) und Ausschnitten aus Interviews. Am 12.Dezember veranstaltet die „Wolfgang Neuss Gesellschaft“ einen Abend in der Berliner Akademie der Künste: Kollegen, Wegbegleiter und Freunde erinnern in Wort, Bild und Ton an den großen kleinen Mann. Und „Wolfi“, wie die Charlottenburger Omas ihr Kiez-Kellerkind liebevoll nannten, wird natürlich anwesend sein: „Der Geist stirbt nicht. Wir leben immer. Ende der Durchsage!“ Mathias Bröckers

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen