■ Wir lassen lesen: Ein Ball fliegt durchs Werkstor
In jedem Land gibt es ein oder zwei Exemplare jener altvorderen Gattung von Sportjournalisten, die ihre ersten Reportagen schrieben, als die Torhüter die Bälle noch mit bloßen Händen fingen, die Radfahrer geplatzte Reifen mit den Zähnen von der Felge kratzten und sich bei Fußball-Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen ein kleines Häuflein von Berichterstattern einfand, die sich alle beim Namen kannten und in unverbrüchlicher Kollegialität ihrer staunenden Leserschaft die Wunder des Sports nahebrachten. Als Globetrotter der Fußballfelder und Aschenbahnen reisten sie in entlegene Winkel der Erde wie Montevideo, Melbourne oder Moskau, mutigen Erforschern weißer Flecken gleich kämpften sie mit widrigen Verkehrsverhältnissen und unzulänglicher Technik. Dafür hatten sie das Privileg, noch persönliche Kontakte oder gar Freundschaften mit den bewunderten Sportstars anknüpfen zu können, und ihren Berichten aus fernen Landen haftete eine Exotik an, wie sie im Zeitalter allumfassender Kommunikation und Medienpräsenz längst passé ist.
Treffen sie sich heute bei Großereignissen, sitzen sie gern beisammen, reden darüber, wieviel besser früher alles war, rümpfen die Nase über die Invasion junger Emporkömmlinge, die den großen Virtuosen der verschiedenen Sportarten nicht mehr mit ehrerbietigem Staunen, sondern mit dreister Respektlosigkeit begegnen, finden alles ziemlich furchtbar und versuchen mit abgewogenen, weisheitsdurchdrungenen Kommentaren aus der Höhe ihres Olymps vergeblich, die Zeit zurückzudrehen. Fußballprofessor Gianni Brera, inzwischen tödlich verunglückt, war die italienische, Hans Blickensdörfer ist die deutsche Variante dieses Typs, der sich vor allem dadurch auszeichnet, daß er eine Menge Geschichten weiß. Gute Geschichten, zumeist, die durch häufiges Erzählen allerdings nicht unbedingt besser werden.
Blickensdörfer, Romanautor im Nebenberuf, hat noch nie gezögert, diese Geschichten unters Volk zu streuen. „Ein Ball fliegt um die Welt“ hieß schon vor Jahren eines seiner vielen Bücher, das in diesem Fall dem Fußball gewidmet war. „Ein Ball fliegt um die Welt“ heißt auch sein neuestes Werk, ein hochglänzendes, extensiv bebildertes Produkt, und zum erstenmal wird der Inhalt dem Titelslogan tatsächlich gerecht. Waren früher Bücher über den „Weltfußball“ meist Bücher über den Fußball in Europa und allenfalls Südamerika, hat Kameruns Auftritt bei der letzten WM 1990 in Italien auch hier Pionierarbeit geleistet. Neben den obligatorischen Chroniken der Weltmeisterschaften und Europapokale, den Stories über Copacabana und Rio de la Plata, gibt es diesmal auch Berichte über die Entwicklung des Fußballs in Afrika, Asien und Ozeanien, sind in die Starporträts auch Leute wie Roger Milla oder die Japaner Kazu und Ruy Ramos aufgenommen worden.
Das Flair der großen weiten Welt offenbart sich zudem in der Bildauswahl. Da wird in Wasserlachen der afrikanischen Savanne gekickt, oder im Stadion des chinesischen Chengdu, und in der Wüste der Arabischen Emirate sitzen, in trauter Eintracht mit Jagdfalken und Kamelen, Männer in Dschelabas vor ihren Zelten und starren gebannt auf einen Fernsehapparat, der ein WM-Spiel zeigt.
Geschichten wie das Porträt des uruguayischen Sportreporters Diego Lucero, der bei allen Weltmeisterschaften seit 1930 dabei war, die unvermeidliche, hundertfach recycelte Lobeshymne auf den krummbeinigen Dribbler Garrincha oder die Würdigung des Valentino Mazzola aus dem großen, 1949 mit dem Flugzeug abgestürzten Team des FC Turin würden das üppige Buch trotz der üblichen, gelegentlichen Ausrutscher in das Reich des Kitsches und der Peinlichkeit und trotz des spektakulären Preises zu einer empfehlenswerten Sache machen, wäre da nicht jene unsägliche Geschichte, die den harmlosen Titel „Fußball ist mehr“ trägt.
An exponierter Stelle, bereits auf Seite 14, direkt vor dem Beitrag über die „Mein Freund ist Ausländer“-Kampagne plaziert, versetzt der Autor den erschreckten Leser plötzlich aus der bunten Welt des Fußballs roh hinter das Volant einer Luxuslimousine. „Heute führen eine Mercedes-Straße und eine Benz-Straße vorbei an einer großen Arena, in der der Fußball zu Hause ist wie in Rio de Janeiro zwischen Copacabana und Botafogo“, heißt es da und mit gewagtem Schlenker geht es weiter: „Auch da rollt der Fußball, und es rollen Autos, die aus Untertürkheim kommen.“ In diesem Stil trieft es zwei Seiten lang, man erfährt, daß der „Weltkonzern“ angeblich „mehr im Sinn hat als die Verzahnung von Wirtschaft und Sport mit salbungsvollen Worten zu dokumentieren“, daß „Professor Werner Niefer“, der dem Werk „fünfzig Jahre lang gedient hat“, zu denen gehörte, „für die Sport nicht alles, aber (fast) alles Sport ist“, daß „Männer wie Niefer und Kleinert“ in ihrem Konzern immer „eine riesige Mannschaft gesehen haben“, und daß daher folgerichtig der deutschen Nationalmannschaft „ein Stern erwachsen ist, den jeder kennt“. So salbadert und salbadert es mit grotesker Schamlosigkeit bis zum wahrhaft bitteren Ende („Sie sind, wie sie sind, der rechte Partner des großen Spiels, das alle Grenzen überflogen hat.“), und es fragt sich der entgeisterte Leser, was um Himmels willen solch obszönes Geschreibsel in einem Buch über Fußball zu suchen hat. Des Rätsels Lösung ist einfach. Daimler-Benz ist nicht nur Sponsor der deutschen Nationalmannschaft, sondern auch Sponsor des Druckwerks „Ein Ball fliegt um die Welt“, was allerdings an keiner Stelle erwähnt wird.
Auch Hans Blickensdörfer ist von der neuen Zeit eingeholt worden, und zwar so krachend, daß ihn alle verbliebenen guten Geister auf der Stelle panikartig verlassen haben. Matti Lieske
Hans Blickensdörfer:
Ein Ball fliegt um die Welt. Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart 1994, 220 Seiten. ISBN 3-421-06648-5, DM 88
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