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Toilettenintendant seit 20 Jahren

Übergroße Hodensäcke und monströse Schwänze oder Die getanzte Philosophie des Urinoirs am Ort der öffentlichen Begierde – Zur deutschen Erstaufführung von „MSM (Men who have Sex with Men)“ im Münchner Marstall  ■ Von Arnd Wesemann

Die Vorteile öffentlicher Toiletten sind hierzulande noch nicht richtig erkannt. Vor allem in Kleinstädten bilden sie die einzigen Orte für 15jährige schwule Jungs, die herausfinden wollen, wer der gleichgeschlechtlichen Liebe nachhängen könnte. Das öffentliche Urinoir beschäftigt den Penis, und Penisse beschäftigen zarte Jungs in diesem Alter ausschließlich.

„Hier“, schwärmt ein junger englischer Tänzer, „ist man unter sich.“ Strahlend fügt er hinzu: „Billig ist es ebenfalls.“ Die Mutter kann nicht hierher folgen. Sauber sei es, fast wie in einem Wohnzimmer, der kleine Kerl ahnt nicht, was auf einer öffentlichen Toilette von Nachteil sein soll. So smart, so touchy, so handsome, wie er keksemampfend wirkt...

Erst im letzten Akt der Tanzerzählung des Australiers Lloyd Newson wird er von zwei wildfremden Herren vergewaltigt. Er schreit um sein Leben. Niemand hört ihn. Zu privat ist der öffentliche Ort, als daß einer Anteil nehmen könnte in der Unterwelt hinter schlecht schließenden Türen, die vollgekritzelt sind mit dem stets einen Objekt der Begierde, den übergroßen Hodensäcken und monströsen Schwänzen, die Ochsen gehören könnten.

Fünfzig Interviews mit Männern, die das sogenannte „Cottaging“ betreiben, hat der australische Choreograph Newson gesammelt. Fünfzig Männer gaben Auskunft über ihr Leben zwischen Toilette und Kachelwand: vom verheirateten Unternehmer, der keine Pinkelpause ausließ, bis zum schwulen Polizisten, der auf Kontrollgängen hin- und hergerissen war zwischen Leidenschaft und Vermeidung öffentlichen Ärgernisses. Er fand zu einer eigenen Gesetzesinterpretation: Sollte er dieses genitalfixierte Treiben unterbinden, müsse es wohl ein Gesetz geben gegen Sex in Privaträumen.

Wenn „Cottaging“ auch schwules Treiben auf öffentlichen Rückzugsanlagen meint, so betritt doch jeder, der ein solches „Cottage“ – (Toiletten-)Häuschen – kennt, eine Zone reinster Privatheit. Newson ließ ein solches Klo nachbauen mit verschiebbaren Wänden, Waschbecken, die überfließen, Spiegeln, die sich drehen. Pissoirs auf Rädern, Klotüren, hinter denen Tänzer auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Herr dieser Zauberkiste ist der „Toilet intendant“ – ein Toilettenwärter, in der Tat: der Toilettenintendant, der durchsichtige Spiegel installieren ließ, um sich an den Jungs zu erfreuen. „It's a variety“, sagt er, „du fickst Fremde, weil du dich ihnen nicht nähern kannst.“ Es ist aber auch Theater: „Try to become somebody else's fantasy“, heißt das Losungswort seiner und jeder Theaterobsession.

Das 1986 von Lloyd Newson gegründete Tänzerkollektiv DV8 (=deviate = abweichen) bleibt weit vom Tanz entfernt. Die hübschen Körper absolvieren kaum mehr als Turnübungen beim Überklettern der Toilettentüren. Zu neugierig vorgeprägt ist das weiblich-voyeuristische und männlich-verzückte Publikum, um etwas anderes als Erzählungen hinterm Schlüsselloch sehen zu wollen. Zwar packt Newson die Tanzerzählung in eine schäbige Dramaturgie, doch man verzeiht, selbst wenn die Komödie mißlingt.

„Old Queen“, eine gealterte Tunte, führt durch die gekachelte Unterwelt. „Alles, was dich sofort befriedigt, macht süchtig“, sagt er mit nonchalantem Blick auf Nachbars Schniedel und bekennt: „90 per cent of cottaging is waiting. If you have patience, you have fun.“ Hier bekommst du alles, jeden Typus, jeden Geschmack. Der smarte 15jährige hatte sein erstes schwules Erlebnis mit jener „Old Queen Mr. Hunt“. Seitdem leben beide hier. Und können sich von dem magischen Ort nicht mehr trennen.

In immer neuen Panoramen und Perspektiven erscheint die Anlage, um ihren „Usern“ immer neue Obsessionen und Geständnisse zu entlocken: daß die Toiletten, der Geruch, die Glätte der Wände bald wie ein Fetisch wirken, daß ein Reicher nicht mehr ohne sie konnte und sich zu Hause ein „Cottage“ nachbauen ließ, daß die meisten „Cottage user“ verheiratet sind und eine „brrilliant rrrelationship“ führen... das alles heißt dennoch und ausschließlich: „Cottaging“ macht süchtig.

Lloyd Newson übersetzt den magisch wirkenden Ort in eine Vexierbühne, aus deren Spiegeln das Wasser rinnt, als ob die ganze Toilette zu pinkeln schiene, sich entleerte. Der Wasserhahn läuft und läuft über. Unaufhörlich verbinden sich Ort und Tänzer. Dialoge wie „Ich will sauberen Sex“, „Gefühle kann man nicht waschen“ gehen auf und unter in der Geräuschkulisse von strömendem Wasser, dem männlichen Pathos vom Verlieren, Verrinnen, Urinieren, Ejakulieren. Die Bühne steht unter Wasser. Nach 20 Jahren verläßt der alternde Toilettenintendant sein Theater der Unverbindlichkeit mit deutlichen Worten: „Er kam... und dann ging er...“

„MSM (Men who have Sex with Men)“, Regie: Lloyd Newson. Letzte Aufführung im Münchner Marstall: Heute um 20 Uhr.

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