: Politische Wendezeit an der Karibik
Bei den morgigen Präsidentschaftswahlen in Venezuela will die Bevölkerung das traditionelle Parteiensystem zu Grabe tragen / Furcht vor Wahlbetrug und Staatsstreich ■ Aus Caracas Ralf Leonhard
Die Einwohner der venezolanischen Hauptstadt Caracas decken sich mit Lebensmitteln ein und viele wollen für Montag lieber keine Verabredung treffen: „Wer weiß, ob man dann auf die Straße kann.“ Von Gewaltausbrüchen bei Siegesfeiern über Zusammenstöße beim Streit um den Wahlausgang bis zum Militärputsch reichen die Katastrophenszenarien, die alle politisch engagierten Venezolaner in den letzten Tagen durchgespielt haben. Die Gefahr von Wahlbetrug und Staatsstreich wird selbst in Washington so ernst genommen, daß Clinton seinen Lateinamerika-Staatssekretär Alexander Watson losschickte, um mit der Androhung von Sanktionen für eine nichtdemokratische Regierung vor Abenteuern zu warnen.
Die Wahlen vom Sonntag unterscheiden sich von denen der vergangenen Jahrzehnte nicht nur dadurch, daß das alte Zweiparteienschema nicht mehr gilt. Es geht um das Überleben eines Systems, dessen wirtschaftliche Grundlage die Ölrente war.
Mit den Politikern, die den enormen Ölreichtum des Landes verjuxt haben, wird bereits abgerechnet. Ex-Präsident Jaime Lusinchi wurde vor wenigen Tagen seiner parlamentarischen Immunität entkleidet: Ihm wird vorgeworfen, Gelder aus einer Geheimschatulle für den Wahlkampf seines Nachfolgers Carlos Andrés Pérez verwendet zu haben. Pérez selbst wurde schon im Mai vom Obersten Gerichtshof von seinem Amt suspendiert, weil ihm die Abzweigung von 17 Millionen US-Dollar nachgewiesen werden konnte.
Die Venenzolaner reagieren auf Korruptionsskandale empfindlich, seit der Zugang zu den Futtertrögen infolge des Ölpreisverfalls immer mehr Menschen versperrt wird. Während sich eine kleine Elite unverschämt bereichert hat, leben inzwischen 70 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Während die einen den Shopping-Trip nach Miami zu den unabdinglichen Menschenrechten zählen, können die anderen nicht einmal ihre Grundbedürfnisse befriedigen.
Schluß mit Neoliberalismus und Formaldemokratie
Kein Wunder, daß der Kampf gegen die Korruption das zentrale Thema des Wahlkampfes wurde. Kein Wunder auch, daß Claudio Fermin, Kandidat der seit zehn Jahren regierenden sozialdemokratischen Accion Democratica (AD), in allen Umfragen auf aussichtslosem viertem Rang liegt. Die Entscheidung dürfte zwischen dem 77jährigen Ex-Präsidenten Rafael Calderá und dem 40jährigen Gouverneur des Industriestaates Bolivar, Andrés Velásquez, fallen. Beide stehen für eine Abkehr nicht nur von der neoliberalen Wirtschaftspolitik, sondern auch für einen Bruch mit dem politischen System der letzten 35 Jahre.
Seit dem Sturz des Diktators Marcos Peréz Jiménez 1958 lösten die beiden großen Parteien, die christdemokratische Copei und die sozialdemokratische AD, einander regelmäßig an der Macht ab und teilten die Pfründe untereinander auf. Die systemimmanente Korruption half, eine relativ breite Mittelschicht zu schaffen. Für den Rest der Bevölkerung blieb dank des Ölreichtums immer noch genug übrig – bis zum Niedergang des Ölpreises in den achtziger Jahren. Venezuela mußte den Canossagang zum IWF antreten und sich ein Anpassungsprogramm verpassen lassen, das im Frühjahr 1989 zum Hungeraufstand des Proletariats führte. Auf die Verzweiflung der Bevölkerung beriefen sich auch die Militärs, deren Putschversuch drei Jahre später nur knapp scheiterte. An jenem 4. Februar 1992 konnte Peréz zwar die formale Demokratie retten, mußte aber gleichzeitig erkennen, daß die traditionellen Spielregeln nicht mehr funktionierten.
Der erste, der die Zeichen der Zeit sofort richtig interpretierte, war Rafael Calderá, der in einer inzwischen historischen Rede im Senat zwar nicht das Vorgehen der Putschisten verteidigte, aber eine grundlegende Reform des Staates forderte. Mit dieser Ansprache begann der Politveteran, sich als Retter der Nation anzubieten. Daß ihn die von ihm mitgegründete Copei nicht zum siebenten Mal ins Rennen schickten wollte, provozierte den Bruch. Calderá gründete seine eigene Partei, die Convergencia, und erhielt bald die Unterstützung von mehr als einem Dutzend politischer Gruppierungen, von der KP bis zur rechtsextremen FUN. Die wichtigste ist die „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS), die sich 1968 nach der Invasion der ČSSR durch Warschauer-Pakt-Truppen von der KP getrennt hatte.
Der alte Christdemokrat hat nicht nur das breiteste politische Spektrum hinter sich, sondern auch die besten Think-tanks. Die wirtschafliche Entwicklung einfach den Regeln des Marktes zu überlassen, sei falsch, erklärt Enzo del Bufalo, einer seiner Wirtschaftsberater. Statt die Einnahmen aus der Privatisierung von Staatsbetrieben einfach zum Stopfen von Defizitlöchern und zum Bezahlen der Auslandsschulden zu verwenden, müsse man sich um Infrastruktur und Investitionsanreize bemühen. Eine vor kurzem eingeführte Mehrwertsteuer sei durch eine selektive Konsumsteuer auf importierte Luxusgüter zu ersetzen. Rückgrat der Fiskaleinnahmen müsse die Kapitalertragssteuer sein, die bisher auf Grund von Korruption und Ineffizienz in der Verwaltung praktisch nicht eingetrieben wird.
Wirtschaft darf man nicht dem Markt überlassen
Grundlegende Reformen verspricht auch Andrés Velásquez, der Kandidat der Causa R, der vom Gewerkschaftsführer zum Gouverneur des südöstlichen Industriestaates Bolivar wurde. Dort hat er sich dank seiner sauberen Amtsführung als Kämpfer gegen die Korruption profiliert. Causa R ist eine eigenartige Mischung aus Gewerkschaftern, Ex-Guerilleros und faschistoiden Gruppen. Velásquez hat gute Chancen, nicht nur in Bolivar, sondern auch in Caracas zu gewinnen, wo sich die städtische Armut konzentriert. In den letzten Wochen hat er in den Umfragen enorm zugelegt, so daß eine Überraschung am Wahltag nicht ausgeschlossen ist. Den Kandidaten der sogenannten Statusparteien, Claudio Fermin für die AD und Oswaldo Alvarez Paz für Copei, bleibt nur noch die Hoffnung, daß das Debakel geringer ausfällt als befürchtet. Nur wenn das Ergebnis knapp wird, könnten Betrugsversuche, die zwischen den beiden Vertretern des Systems angeblich ausgeheckt wurden, Aussicht auf Erfolg haben. Alle Parteien haben jedenfalls ihre Sympathisanten aufgerufen, ihren Wahlsieg notfalls auf der Straße zu verteidigen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen