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Für das Recht der Russen auf Wiedervereinigung

■ Etwa tausend Gegner des am Sonntag zur Wahl stehenden Verfassungsentwurfs trafen am Wochenende in Moskau zusammen und bezeichneten sich selbst als die „wahren Demokraten“

Die Türen des Parlamentszentrums an Moskaus Zvetnoj-Boulevard blieben am Freitag verriegelt. Und so mußten sich die Gegner des neuen Verfassungsentwurfs, der am nächsten Sonntag zur Abstimmung steht, in aller Eile nach einem neuen Tagungsort umsehen. Im Filmtheater „Meridian“ am Stadtrand fand die einstmals „unversöhnliche Opposition“ auf Anhieb eine Bleibe – offenkundig hatte das Organisationskomitee der etwa tausend Konferenzteilnehmer die Ablehnung der Stadtbehörden schon einkalkuliert.

Die Verfassungsdebatte in Rußland folgt eigentümlichen Bahnen. Vizepremier Wladimir Schumeikos, der die öffentliche Kritik an der Konstitution am liebsten untersagt hätte, sorgte mit Äußerungen für Irritationen selbst im eigenen Lager. Schumeiko gehört dem präsidentennahen Block „Wahl Rußlands“ an. Seine Mitstreiter aus dem Wahlbündnis und aus anderen reformorientierten Gruppierungen ließen auf harsche Kritik nicht warten. Ganz zu schweigen von der Fundamentalopposition. Schumeikos Motive lassen sich nur schwer nachvollziehen. Was will er erreichen? Die Diskussion um die Verfassung kann man im heutigen Rußland nicht unterdrücken. Die Medien legen sich keine freiwillige „Selbstzensur“ auf, wie es der Vizepremier unmittelbar nach dem Oktoberputsch in einer ziemlich dummen Bemerkung hatte anklingen lassen. Als sich einige Parteien in ihren Wahlsendungen offen gegen die Annahme der Verfassung stellten, drohte sogar Jelzin, sie von den Wahlen auszuschließen.

Dabei steht man im Jelzin-Lager nicht unisono zur Verfassung. Jelzins ehemaliger Musterschüler und Mitverfasser der Konstitution, Vizepremier Sergej Schachraj, nimmt offen Anstoß an der herabgeschraubten Rolle der Subjekte der Föderation. Dennoch treten er und seine Partei „Einheit und Verständigung“ für die Annahme des Projekts am kommenden Wochenende auf. Mit der geläufigen Begründung: ohne ein verbindliches Grundgesetz würde Rußland weiter in die Katastrophe treiben. Kritiker aus den anderen reformorientierten Gruppierungen variieren dieses Thema. Die starke Rolle des Präsidenten und die beschränkten Vollmachten des neuen Parlaments werden bei der Kritik nicht ausgespart. Nach dem Buchstaben des Gesetzes mag darin tatsächlich ein Problem bestehen. Doch schon jetzt ist klar, daß nach den Wahlen auch ein Jelzin nicht gegen das Parlament wird regieren können. Unbedachtes Vorgehen gegen die Legislative würde ein schnelles Nachspiel vorgezogener Präsidentenwahlen haben.

Die Fundamentalopposition im „Meridian“ ließ Argumente nur am Rande gelten. Hier hatte sich die Crème de la crème der Verteidiger des Sowjetsystems versammelt: Verfassungspräsident Valerij Sorkin, der das Auftaktreferat hielt, Oleg Rumjanzew, der trotz seiner Jugend schon das gesamte politische Farbenspektrum durchschritten hat, Sergej Baburin und Aksijunitsch, beide ehemalige Fraktionsvorsitzende rotbrauner Organisationen. Sie kandidieren auch fürs neue Parlament. Aksijunitsch bezichtigte die Jelzin-Regierung des „Demfaschismus“. Gemeint ist der Faschismus in demokratischem Gewand. Die wahren Demokraten saßen an diesem Tag im Kino: „Uns verbindet alle die wahre demokratische Überzeugung“, pries Baburin die Anwesenden. Die meisten Debattenbeiträge liefen darauf hinaus, daß man eine neue Verfassung erstmal nicht brauche – Hauptaufgabe sei „der Kampf mit dem Demfaschismus und die Wiedererrichtung der Großmachtrolle“. Über halsbrecherische Begründungen leitete ein Redner das Recht der Russen – die „heute künstlich geteilt sind“ – auf Wiedervereinigung ab. Wegen des „illegitimen Zerfalls“ des zaristischen Imperiums, wie er es formulierte. Gemeint sind die ehemaligen Republiken und neuen Staaten der GUS. „Patrioten und Kommunisten stehen heute zusammen“, schloß das Referat. Klaus-Helge Donath, Moskau

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