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Gestrenge Ansichten der Henker Christi

Die Faszination des Monströsen: „Agitation zum Glück – Sowjetische Kunst der Stalinzeit“ in Kassel  ■ Von Christian Semler

Berlin im Sommer 1937. In der Küche einer Arbeiterfamilie diskutieren drei junge Antifaschisten über den sozialistischen Realismus. Der Ich-Erzähler, schon auf dem Sprung nach Spanien zu den Internationalen Brigaden, ist mit seinem Freund Coppi einig: Die Werke dieser neuen Richtung in der Sowjetunion sind genauso, wie sie zu sein haben. Eindeutig, naturgetreu, sie verlangen keine neuen Sehgewohnheiten. Man muß sich nicht durch das Wirrwarr avantgardistischer Stilrichtungen kämpfen, um die Schilderung revolutionärer Ereignisse zu verstehen.

Der dritte Freund, der revolutionäre Oberschüler Heilmann, protestiert. Der Realismus in den neuen Werken wird durch Idealisierung und Heroisierung aufgehoben. Das ist Allegorienmalerei – nur mit sozialistischen Vorzeichen. Das Triumphieren, entgegnet Coppi, ist die Wahrheit dieser Werke. Es werden, verteidigt sich Heilmann, zwar Errungenschaften des Volkes gezeigt, aber den widerspruchsvollen Prozeß, innerhalb dessen das Neue entsteht, verdeckten sie. „Die Bilder ermutigen uns“, mischt sich die Mutter Coppis, ihre geschwollenen Füße in einer Seifenlauge schwenkend, ein. „Solchen Beistand brauchen wir jetzt, da so viele von uns sich geschlagen gaben“.

Peter Weiß hat im ersten Buch seiner „Ästhetik des Widerstandes“ diesen Streit der Freunde – 40 Jahre nachdem er sich so oder ähnlich abgespielt haben mag – in distanzierter, fast protokollarischer Manier nachgezeichnet. Er stellt uns Material zur Verfügung für die schwierige Operation des Verstehens. Was waren das für Menschen, die angesichts dieses Exzesses überdimensionierter Maschinen und Muskelmalerei, angesichts inbrünstger Heiligenverehrung des großen Führers und seiner engsten Kampfgenossen vom Politbüro der KPdSU, angesichts dieses todlangweiligen Akademismus nicht, von Lachkrämpfen geschüttelt, aus den Ausstellungen des sozialistischen Realismus geflohen sind? Offenbar war bei den Betrachtern dieser Bilder nicht nur Angst und Konformismus im Spiel. Es gab ein übermächtiges Verlangen nach Demonstration der eigenen, kollektiven Stärke, nach Zukunftsgewißheit – nicht nur beim sowjetischen Publikum. Auf den Weltausstellungen von Paris und New York in den späten dreißiger Jahre waren viele der westlichen Besucher von den Wandgemälden und Plastiken kolossalen Ausmaßes überwältigt. Sie konnten sich dem Pathos des Aufbruchs nicht entziehen, dem strahlenden Optimismus der hellen Farben. Die alte, kapitalistische Welt teilte mit der Sowjetunion die Begeisterung für die Anspannung aller Sehnen und Nerven, für Sport, Geschwindigkeit, Automobile und „Aeroplane“. Die Vorstellung von „Massen“ war noch nicht stigmatisiert, selbst wenn sie als Ornament auftraten. Und schließlich war, kein Wunder angesichts der Weltwirtschaftskrise, die Utopie des Planstaats samt kollektivistischem Fundament allgegenwärtig.

Gestorben, begraben, vergessen – eine untergegangene Welt. Der sozialistische Realismus, eingeleitet durch den Beschluß des Zentralkomitees der KPdSU vom April 1932 über die Umgestaltung der Literatur und Kunstorganisationen, absolut verbindlich zu Lebzeiten Stalins, welkte langsam dahin nach der Geheimrede Chrustschows 1956 auf dem XX. Parteitag. In den folgenden Jahrzehnten wurde indes die sowjetische Avantgarde der 20er Jahre wiederentdeckt. Während sich die Magazine mit den abgehalfterten Heroen der Büros und Fabriken füllten, reisten die Aufkäufer des deutschen Schokoladenkönigs Ludwig durchs Sowjetland, um hier einen Rodschenko, dort einen Larionow zu ergattern.

Dann kam die Postmoderne: Seit geraumer Zeit dürfen wir uns unbefangen an den architektonischen Hervorbringungen des Zuckerbäckerstils erfreuen. Lenin- und Stalinportraits sind jetzt einfach poppig. Glücklich, wer orthodoxer Kommunist war, und, als er sich eines Beßren besann, nicht den gesammelten stalinistischen Nippes in den Müllcontainer feuerte. Seit dem Ende des Sowjetstaates 1991 wird das künstlerische „nationale Erbe“ der Jahre 1934–57 hemmungslos an westliche Sammler verscheuert. Wie lange wird es dauern, bis die noch mit dem Ruch des Totalitarismus behafteten Werke der Stalinepoche auch in Rußland aufs neue bewundert werden – diesmal nicht dem Ruf der Partei folgend, sondern im Zeichen einer Hausse auf den westlichen Kunstmärkten?

Das sind die Auspizien, unter denen Jewgenja Petrowa vom staatlichen russischen Museum St. Peterburg und Hubertus Gassner vom documenta-Archiv eine Ausstellung zum russischen sozialistischen Realismus konzipierten. Sie ist jetzt in der 1992 errichteten Kasseler documenta-Halle zu sehen und wird später in St. Petersburg gezeigt werden. Die Schau, von einem ebenso schönen wie instruktiven Katalog begleitet, umfaßt nahezu 100 Gemälde, eine Reihe von Plastiken, darunter ein verkleinertes Modell der Statue „Arbeiter und Kolchosbäuerin“ von Vera Muchina, die am Eingang zum Sowjetpavillon auf der Pariser Weltausstellung 1937 Wacht hielt. 50 Plakate kommen hinzu, Devotionalien, Kleinkunst – insgesamt über 250 Exponate.

Kann die Ausstellung etwas von der monströsen Faszination vermitteln, die die Werke des sozialistischen Realismus ausstrahlten? Die beiden riesigen Flächen der Längshalle nehmen die Wandgemälde auf, die „Malerbrigaden“ unter der Leitung von Pimenow 1939 für die Weltausstellung in New York malten. Anders als bei der Orginalhängung, wo die bis zu 9 mal 17 Meter messenden Schinken von Statuen und Pfeilern aus imitiertem Marmor eingerahmt und, die Bildachsen betonend, von Scheinwerfern angestrahlt waren, ist nun die Leinwand „nackt“ und die eingefaßten Ringe, mit denen das Ungetüm gespannt wurde, sind für jedermann sichtbar. So ihrer inszenierten Aura beraubt, geben die Mega-Bilder die Ärmlichkeit ihrer Komposition und malerischen Ausführung preis. Denn 1939, am Ende des großen Terrors und im dritten Planjahrfünft hat sich der Elan erschöpft, der die Großfresken der frühen 30er Jahre prägte. Die neue Machtelite ist spießig, sie ist mehr aufs naturalistische Genrebild aus. Sie will sich selbst und ihre Führung inszenieren – möglichst in den streng hierarchisch angeordneten Sitzungs- und Festbildern, deren pompösestes, A.M. Gerassimows Hymne auf den Oktober, nun die Stirnseite der großen Halle einnimmt.

Denn der sozialistische Realismus wandelt sich, wie Gaßner und Gillen im Hauptbeitrag des Katalogs überzeugend darlegen, von der Feier des technischen Planstaats, vom Lakonismus und „konstruktivem“ Realismus der Bilder des ersten Planjahrfünfts zu einem verschwommenen, klassizistischen Humanitätsideal, wo Arbeiter und Bauern nur noch zum Material der Aufmärsche taugen, um schließlich fast ganz zu verschwinden. Ein wichtiges Dokument des Übergangs von der heroischen Arbeiter- zur spießigen Kaderperiode bildet A.N. Samochwalows Bild von 1935: S.M. Kirow nimmt die Sportparade ab. Drei Grazien (!), die die geschlossene Marschformation verlassen, reichen Kirow einen riesigen Blumenstrauß auf die Tribüne. Der fällt vor Begeisterung fast von seinem Ehrenplatz herunter. Obwohl politisch der Mittelpunkt, ist er nur am äußersten, oberen Bildrand zu sehen. Der Hintergrund des Bildes wird von einem riesigen Wandgemälde beherrscht, das die Hälfte des von einer korinthischen Säulenordnung verzierten Palastes bedeckt. Komischerweise aber verwechseln Gaßner und Gillen bei ihrer Interpretation des Bildes Lenin und Stalin. Gerade indem Samochwalow ein Jahr nach der Ermordung Kirows (durch Stalin, wie wir heute wissen) Lenin in den Mittelpunkt rückt und jeder Verklärung Kirows widersteht, ist sein Bild eine indirekte Kritik an der stalinistischen Heiligenverehrung samt deren ästhetischer Direktiven.

Die jetzige Unterteilung der Ausstellung nach Sujets unterläuft bis zu einem gewissen Grade die Entwicklung des sozialistischen Realismus von der proletarischen Maschinen-Utopie zur Selbstfeier der neuen Machtelite. Ausgelaugte Produkte des Akademismus, späte Abkömmlinge des Impressionismus à la Liebermann hängen neben Gemälden wie dem der rotgewandeten, radelnden Bäuerin Aleksandr Dejnekas, einem hinreißend schönen, späten Zeugnis des „konstruktiven“ Realismus, dem Samochwalows „der mobilisierte Komsomol“ von 1932 zur Seite zu stellen wäre. So wird es dem Besucher unmöglich, die Stadien des inneren Zerfallsprozesses nachzuvollziehen, dem die Kunst der späteren Stalinzeit unterworfen war. Aber die Unterteilung nach Sujets führt auch zu überraschenden Einsichten. Was setzt der Maler P.P. Kontschalowski seinem Besucher, dem Dichter A.N. Tolstoj, 1941 zum Festmahl vor, und woran laben sich die Kolchosbauern A. A. Plastows im Jahre 1937? Überhaupt die leidenschaftliche Inbrunst, mit der, wie bei niederländischen Meistern, die üppigen Köstlichkeiten des Tisches festgehalten werden!

Am besten ist den Ausstellern das Kabinett gelungen, das Bilder von Sitzungen vereinigt, exzellentes Material für eine vergleichende Ikonographie. Fast immer wird die Zentralperspektive eingehalten, werden die Personen streng nach der Hierarchie geordnet. Molotow stets im Profil — eigentlich die Ansicht der Henker Christi in der byzantinischen Malerei — Malenkow gottergeben en face, die Sekretärin in der Sitzung des Parteikomitees wie Christos Pantokrator mit dem Finger auf den Arbeiter-Delinquenten weisend. Nur auf dem heiter-schwachsinnigen Gemälde, das eine Tagung der Akademie der Wissenschaften zeigt, ist die Ordnung zerstört. Die Geistesgrößen sitzen, einem undurchsichtigen Schema der Raumaufteilung folgend, in lockeren Gruppen beisammen, ohne überhaupt den Worten des Referenten zu folgen – ein frühes Dokument bürokratischer Selbstauflösung.

Wieviel hat eine Kunstrichtung, die doch dem Aufbau dienen sollte, zerstört? Wie viele Künstler hat sie geduckt, wieviel Talent und Engagement vergeudet? Die unendlich traurigen realistischen Portraits von Malewitsch, in deren Farbgebung noch die Regeln des Suprematismus durchscheinen, lassen etwas von dem Verlust erahnen. Verlorene Jahrzehnte – auch so ließe sich diese wichtige Ausstellung überschreiben.

„Agitation zum Glück – Sowjetische Kunst der Stalinzeit“, bis zum 30.1., in der documenta-Halle Kassel. Der Katalog, 256 S., Edition Temmen, kostet 38 DM.

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