: Kein e in Anton Voyls Fortgang
■ Anagramme, Lipogramme, Palindrome: Ein Buch über die OULIPO-Bewegung und den Spaß an der potentiellen Literatur
Barock kommt zurück! Seit Jahrzehnten mehren sich die Anzeichen. Und jetzt haben wir schon wieder eins. Der jüngste Sendbote des Neobarock heißt „Anstiftung zur Poesie - Theorie und Praxis von Oulipo“ und ist ein feines und lustiges Büchlein über die Sprache als solche und als Material.
Welches sind die Mittel, die Sprache so zu traktieren, daß herrlicher Unsinn, wenn nicht Neusinn rauskommt? Wie kann man den Regeln der Sprache barocklaunig so mitspielen, daß man über dieselben etwas herausbekommt? Über solche und anderlei amüsante Fragen sprachen im Jahre 1960 mehrere französische Herren im Pariser Restaurant „Au vrai Gascon“. Im selben Augenblick entstand „Oulipo“. Oulipo ist die oulipistische Abkürzung von „Ouvroir de littérature potentielle“ (Werkstatt für mögliche Literatur). Die Werkstatt gibt es heute noch, ihr gehören Namen wie Georges Perec, Italo Calvino und Jacques Roubaud an, und das neue Buch des einschlägig schon bekannten Bremer Manholt-Verlages ist ein Werkstattführer.
Ende der 70er Jahre an der Universität Bremen. Berühmt für seine oulipophilen Seminare war ein Hochschullehrer namens Heiner Boehncke, bei dem, so hieß es, man schreiben lernen könnte. In Wohnzimmern, Kneipen und Seminarhäusern schnipselte und stümmelte, stümperte und schüttelte man selbstverfertigte Texte, es tanzten Anagramme mit Lipogrammen, es flatterten Figurengedichte umher, und das Lachen wollte nicht aufhören bei den Stilübungen nach Großmeister Raymond Queneau. Am Ende kam aus den Schreibstuben im besten Falle Poesie, im schlechtesten immer noch Kreatives heraus, und letztlich, so hört man, ein Schock passabler AutorInnen.
Nämlicher Boehncke ist heute Mitarbeiter des Hessischen Rundfunks und hat zusammen mit seinem Kollegen Bernd Kuhne die „Anstiftung zur Poesie“ herausgegeben.
Es geht um die Entlastung des Schreibens von der Bedeutung. Das schafft der Oulipist durch einen selbstauferlegten Formzwang, der die Bedeutung zugunsten der Poesie aus der Sprache treibt. Die Mittel sind oft so altbekannt, daß der leicht größenwahnsinnige Oulipist gern von „Plagiatoren per Antizipation“ spricht: Schon ein Nestor de Laranda hat im 3. oder 4. Jahrhundert eine lipogrammatische Ilias geschrieben (im ersten Gesang fehlt der Buchstabe a, im zweiten b und so weiter).
Dreihundert Jahre vor unserer Zeitrechnung spielte der Anagrammist Lykophron von Chalkis mit dem Namen seines Herrschers Ptolemaios und machte aus ihm „apo melitos“, „den von Honig“. Der Barockprediger Abraham a Sancta Clara warnte vorm verkehrten Leben mit palindromischen Verdrehungen: „Leben - Nebel“. Heute arbeiten die ausgeschlafensten Oulipisten natürlich mit einem Computer, der Texte neu kombiniert und interaktiv beeinflußbar macht.
Der Club der Oulipisten ist mittlerweile 33 Jahre alt und 27 Mitglieder stark. Ehrengast der regelmäßigen Sitzungen ist Eugen Helmlé, kongenialer Übersetzer oulipistischer Autoren ins Deutsche. Man muß sich das vorstellen: Georges Perec legte 1969 mit La disparation den bis heute längsten lipogrammatischen Text vor - auf 360 Zeilen verzichtete er völlig auf den weitaus häufigsten französischen Buchstaben e! Aber das muß Herr Helmlé erst mal ins Deutsche übersetzen! (Anton Voyls Fortgang).
Dankenswerterweise kommen in dem Buch die Helden der Bewegung selbst in kurzen Aufsätzen zu Wort, und so kann man sich erstmals in deutscher Sprache allseits über den Oulipo-Gedanken informieren. Und lernen, daß, bevor man seinen Texten Bedeutung aufbürdet, zuvor ausgiebig mit ihnen gespielt haben sollte.
Burkhard Straßmann
Heiner Boehncke, Bernd Kuhne, Anstiftung zur Poesie. Bremen, Manholt 1993, 152 S., 32.-
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