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Joggen bei Wind und Wetter

■ Die Freie Universität offeriert einen Kurs "Sport gegen Depression" / Sogar Psychiater schicken ihre "schweren Fälle" zum Trimm-dich gegen die Trübsal

Das Telefon im Büro von Marieta Erkelens klingelt. „Ja, wenn Sie sich nicht trauen, zu uns zu kommen“, erklärt die Diplom-Psychologin der Anruferin, „dann hat das auch keinen Sinn mit unserem Kurs.“

Was sich zunächst wie eine krasse Abfuhr anhören mag, ist für Frau Erkelens inzwischen zwangsläufig zur Routine geworden. Seitdem die Sportwissenschaftlerin an der Freien Universität einen Kurs „Sport gegen Depressionen“ organisiert, hat sie sich an kurzfristige Absagen gewöhnt. „Es gibt viele Menschen, die gerne bei uns mitmachen würden, die es aber nicht schaffen, morgens aufzustehen, weil sie sich leer und lustlos fühlen, oder einfach Angst haben, mit der U-Bahn zu fahren.“

Gegen diese Antriebsarmut haben Sportpsychologen der Freien Universität unter Leitung von Frau Erkelens ein spezielles Fitnessprogramm entworfen, das inzwischen allgemeine Anerkennung gefunden hat.

Selbst anfangs skeptische Psychiater, die zunächst wohl ungeliebte Konkurrenz witterten, schicken mittlerweile Kunden, mitunter sogar „schwere Fälle“ (Erkelens), zur sportlichen Behandlung an Berlins Freie Universität.

Das Teilnehmerfeld sei bunt gemischt, berichtet Marieta Erkelens. Männer und Frauen von Anfang 20 bis über 60 Jahre rappeln sich auf und fahren zu den Sportstunden in den Grunewald, um dort ihre seelische Schräglage wieder besser in den Griff zu bekommen. „Auch was die soziale Herkunft angeht, ist fast alles vertreten: vom Arbeitslosen und Ungelernten über Frauen von sehr reichen Männern, die unter Langeweile- und Leere-Depressionen leiden, bis hin zu Akademikern oder Unternehmern.“ Gemeinsam haben alle jedoch jene fatale Lustlosigkeit, die sie immer tiefer in die seelische und schließlich soziale Isolation treibt.

Es ist mithin eine Art Spiel ohne gesellschaftliche Grenzen, das die Pädagogen und Psychologen der Freien Universität durchführen. Oberste Spielregel ist dabei der Erfolg. „Unsere Übungsstunden sind immer so gestaltet, daß Erfolge erzielt werden. Niemand darf überfordert werden, so daß er glaubt: Ich schaffe das alles nicht, ich bin eine Niete“, erläutert Frau Erkelens.

Fünf Monate lang stärken die Berliner Sportler zweimal wöchentlich ihr Nervenkostüm. In Gruppen von sechs bis zwölf TeilnehmerInnen, stets angeleitet von einem Sportpädagogen als fester Bezugsperson, joggen sie bei Wind und Wetter bis zu 45 Minuten durch den Wald, absolvieren ein leichtes Intervalltraining oder trimmen sich durch Spiele und „Naturerlebnisübungen“.

„Wenn unsere Patienten langsam wieder zu körperlichen Kräften kommen“, so Marieta Erkelens, „dann baut sich allmählich auch das Bewußtsein auf: Ich habe Kraft, ich bin stark, ich kann noch was, so daß dieser kräftige Körper ein Bewußtsein ausbildet und Angst oder Depressionen nehmen kann.“

Der Einsatz von Spiel und Sport in der Psychotherapie geht bis in die späten sechziger Jahre zurück, als bei Psychotikern erstmals positive Effekte durch sportliche Betätigung nachgewiesen wurden. Doch trotz einer inzwischen geradezu inflationär zu nennenden Forschung auf diesem Gebiet (der Joggingwelle sei Dank) kann man noch nicht von einer allgemeingültigen sportspezifischen Psychotherapie sprechen. Zum einen fehlen standardisierte Programme, die auf bestimmte Krankheitsbilder zugeschnitten sind; zum anderen ist der Stellenwert des Sports bei psychisch Kranken bislang nicht eindeutig bestimmt worden.

Einen ersten Schritt in diese Richtung leisten die Wissenschaftler der FU, die in diesem Jahr bereits ihre 15. Auflage von „Sport gegen Depressionen“ durchführen. Hierzu zählt auch, daß die Patienten einmal pro Woche in den Gruppen über ihre gemachten Erfahrungen reden. Spätestens während dieser Gesprächstherapie wird ihnen bewußt, „daß es allen schlecht geht, daß alle Probleme haben und wir gemeinsam sehen müssen, was wir daran ändern können“, weiß Diplom-Psychologin Marieta Erkelens aus ihrer langjährigen Praxis.

Der Erfolg gibt dem Projekt an der Freien Universität durchaus recht. Wie das „Berliner Institut zur Förderung seelischer Gesundheit durch Bewegung, Spiel und Sport e.V.“ ermittelte, geht es 60 bis 72 Prozent der Absolventen solcher Fitneßkurse eindeutig besser als zuvor. Eine Quote, die den Vergleich mit den Erfolgsmeldungen herkömmlicher Psycho- und Pharmakotherapien nicht zu scheuen braucht.

Drei Schützlinge des Berliner Anti-Depressions-Kurses haben im Verlauf der Trimm-dich-Behandlung ihre Antriebsarmut besonders eindrucksvoll bekämpft und frönen nun dem ganz persönlichen Wahnsinn: Sie bestreiten regelmäßig den Berlin-Marathon über 42 Kilometer. Jürgen Schulz

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