: Fotos gegen das Vergessen
Mit ganzseitigen Anzeigen in zahlreichen Tageszeitungen erinnern niederländische Fotografen an die Not der Zivilbevölkerung in Bosnien / Viele Ausstellungen und Happenings ■ Aus Amsterdam Rop Zoutberg
Der Wohnwagen vom Roten Kreuz, der an diesem naßkalten Morgen vor den Toren des Utrechter Rathauses Stellung bezogen hat, ist mit Zeitungspapier zugeklebt. Das Papier soll schützen – nicht gegen die Witterung, sondern gegen das Vergessen. In 45 niederländischen Zeitungen ist an diesem Mittwoch der Aufruf der „Fotografenplatform“ erschienen, eines einmaligen Zusammenschlusses von rund 400 niederländischen Fotojournalisten, die mit ihrer ganzseitigen Anzeige auf das Leid der Menschen in Bosnien-Herzegowina aufmerksam machen wollen.
Neben einem jeweils großformatigen Foto aus dem Kriegsgebiet und dem Appell der Journalisten, von denen viele zwischen den Fronten arbeiten, findet sich eine gebührenfreie Telefonnummer; eine Woche lang können die Leser unter 06-300093 anrufen, um den „Weg zu gezielter Hilfe für Bosnien“ zu erfahren.
Die Bilder aus Sarajevo, Mostar und Pakrac bilden den Auftakt zu einem landesweiten Aktionstag. Die Aktionen fallen an jedem Ort anders aus, aber überall erinnern sie an den Krieg auf dem Balkan. In Utrecht sind die Einwohner aufgerufen, mit dem Gegenstand zum Rathaus zu kommen, der ihnen am meisten bedeutet. Es soll etwas ganz Persönliches sein, etwas, das man bei einem Bombenalarm, bei der Flucht aus der Wohnung noch ganz schnell unter den Arm klemmen kann. Mit diesem Lieblingsgegenstand sollen die Utrechter im Rot-Kreuz-Wagen fotografiert, ihre Porträts danach im Buchladen gegenüber eine Woche lang ausgestellt werden.
Der erste, den der Fotograf Marc De Kort in das provosorische Fotostudio holt, ist ein alter Stadtstreicher, der als sein Teuerstes eine Flasche Portwein hervorkramt. „Sie können ihr Foto nächste Woche abholen“, erklärt De Kort kurze Zeit später seinem ersten „Kunden“. Dann geht es Schlag auf Schlag, einer bringt eine Bibel, eine andere einen ganzen Koffer voller Erinnerungsstücke. Eine Frau zeigt dem Fotografen eine Puppe, die sie, in Seidenpapier eingewickelt, in einem Karton aufbewahrt. Ihr Vater hat ihr die Puppe mitgebracht, als er aus dem Korea-Krieg heimkehrte.
Ein Journalist des angesehenen liberalen NRC Handelsblad hatte am Vorabend im Rundfunk die Aktion der Fotografen als „inhaltlich unsinnig“ bezeichnet. Seiner Meinung nach sei der Aufruf eine Überschätzung dessen, was Fotografen oder Journalisten ausrichten können. Es sei nur „logisch“, daß die Aufmerksamkeit für Krieg und Gewalt in dem Moment abnehme, wo „alles längst gesagt“ worden sei. NRC Handelsblad und das Boulevard-Blatt De Telegraaf waren die einzigen großen überregionalen Zeitungen, die sich dem Aufruf verweigerten. „Wir sind der Meinung, daß wir den redaktionellen Teil unseres Blattes nicht irgendeinem Dritten zur Verfügung stellen können“, erklärte NRC-Chefredakteur Olde Kater. Viele andere Zeitungen hatten keine Bedenken. Die Amsterdamer Abendzeitung Het Parool stellte gleich die gesamte erste Seite zur Verfügung.
Wie in Utrecht, Groningen und Den Haag führen die Pressefotografen an diesem Mittwoch auch in Amsterdam Aktionen für Bosnien durch. Ähnlich wie auf dem Museumsplein – für einen Tag in „Sarajevo-Boulevard“ umgetauft – sind auch im Foyer des Rathauses der Hauptstadt Stellwände mit Bildern niederländischer und ausländischer Fotografen aufgestellt, die an den Kriegsschauplätzen in Bosnien arbeiten. Die Bilder zeigen keine Kriegshandlungen, sondern die desolate Situation der Zivilbevölkerung. Der Fotograf Marc De Haan aus Leiden betrachtet die lebensgroßen Abzüge seiner Bilder und flüstert in sich gekehrt, er müsse bald wieder hin. De Haan ist pessimistisch, sieht keinerlei Lösungsmöglichkeiten für Bosnien. „Womöglich ist der Aufruf der ,Platform‘ naiv. Aber ich finde es richtig, den Leuten hier zu zeigen, was dort vor sich geht.“
Um 18 Uhr zählt im Amsterdamer Kongreßzentrum RAI die erste Schicht von Freiwilligen, die die Anrufe aufgerüttelter und hilfsbereiter Bürger entgegengenommen haben, die Telefonate zusammen: Über tausend haben sich bis zu diesem Zeitpunkt gemeldet. Ihre Zahl nahm immer in dem Moment zu, wo Rundfunk und Fernsehen über die Aktion berichteten. Die Koordinatorin der Telefonaktion, Marjolein Nieuwenkuiper, erklärt den neuen MitarbeiterInnen gerade, sich ja auf keine Diskussionen einzulassen. Sie sollen die Anrufer gezielt an die lokalen Hilfsinitiativen verweisen, mit Fragen auch an „Ärzte ohne Grenzen“ oder amnesty international. Sie stellt fest, daß die Fotos aus Bosnien die Anrufer „stark berührt haben. Aber es überwiegt das Gefühl resignativer Machtlosigkeit.“
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