Eine Demokratie ohne Volk

In Moskau gibt es Wichtigeres als Politikergesichter. Eindrücke vom Nichtwahlkampf  ■ Von Sabine Herre

Das Gebäude der Zentralen Getreideverteilung umfaßt einen ganzen Straßenblock. Hunderte von Türen. Hunderte Verteiler, oberer, mittlerer, unterer Verteiler. In der marmornen Eingangshalle sind Sekretärinnen auf dem Weg zum Mittagstisch. Es riecht nach Hühnerbrühe und gebratenem Fleisch. Ein Mädchen trägt einen Teller mit gefrorenen Hühnerkeulen zum Aufzug. Auf einem breiten braunen Sofa haben sich einige Funktionäre aus der Provinz niedergelassen. Ihre Gesichter sind rot von der Kälte, über ihnen hängen Hammer und Sichel. Das Emblem abzunehmen, würde wenig Aufwand erfordern.

Am Eingang weist ein Schild auf den Sitz der „Agrarunion der UdSSR“ hin. Eine Organisation, die es schon seit zwei Jahren nicht mehr geben dürfte. Ihre Nachfolgerin, die Agrarpartei der Russischen Föderation, scheint dagegen niemand zu kennen. Man ist bemüht, die richtige Zimmernummer zu finden. Die Tür des stellvertretenden Vorsitzenden ist schließlich verschlossen. Schon am Morgen mußte er auf eine Kolchose fahren. Für den Wahlkampf blieb keine Zeit.

Der Zugang zu Rußlands Politikern ist noch immer nicht leicht. Moskau ist keine offene Stadt. Manche Häuser haben drei Eingänge, doch zwei von ihnen sind blind. Am dritten sitzt die Herrin der propuskas, der Einlaßgenehmigungen. Wer keinen Termin hat, erhält keinen Zutritt.

Am einfachsten ist es bei „Echo Moskau“, einem 1990 gegründeten unabhängigen Polit-, Kultur- und Musiksender. Der Name eines Redakteurs genügt und schon greift die Concierge zum Telefon. Pawel Schirow ist politischer Kommentator von Echo Moskau und mitverantwortlich für die Wahlsondersendungen. „Hörer und Hörerinnen können bei uns anrufen und Fragen stellen. Das ist für sie interessanter als die Selbstdarstellungen im Fernsehen.“ Themen gibt es viele, aber am wichtigsten ist natürlich die Ökonomie. Nicht immer haben die Kandidaten eine Antwort.

Einen richtigen Wahlkampf gebe es aber trotzdem nicht, meint Schirow, im Unterschied zu den Wahlen zum Obersten Sowjet Rußlands 1990. Damals löste eine Veranstaltung die andere ab. Damals existierte die Sowjetunion noch, es waren die ersten freien Wahlen. Jetzt geht es nur noch darum, die Unentschiedenen zu gewinnen.

Im Gebäude des Informationsministeriums hat die propuska- Stelle einen separaten Eingang. Durch eine Sprechluke wird der Paß und ein ausgefülltes Formular hineingereicht. In dem drei Quadratmeter großen Zimmer wird ständig mit den Büros des Ministeriums telefoniert. Vor Ausfertigung des Passierscheins müssen die Besucher den Nachweis erbringen, im Moment tatsächlich erwünscht zu sein. Wenn ein Besucher ein Gebäude betreten hat, verläßt er es so schnell nicht wieder. Nachdem er den offiziellen Termin hinter sich gebracht hat, bemüht er sich um einen weiteren. Kontakte sind notwenig und die Grundlage für gute Geschäfte. Nur so lohnt der propuska-Aufwand. – Im Informationsministerium sitzt Alla Jaroschinskaja, Trägerin des Alternativen Nobelpreises 1992. Die 40jährige Journalistin machte sich ihren Namen durch ihre Berichterstattung über Tschernobyl, die Ukraine verließ sie aus politischen Gründen. Doch Atomfragen bewegen sie im Moment weniger. Heute ist Alla Jaroschinskaja innenpolitische Beraterin von Präsident Jelzin, die Parlamentswahlen haben Vorrang, und von ihnen erwartet sie wenig Gutes: „Das neue Parlament wird nicht besser sein als das alte. Der Machtkampf zwischen Demokraten und Kommunisten wird weitergehen.“ An eine Regierungsmehrheit der vier reformorientierten Blöcke will sie nicht glauben: „Die Führer der Parteien blockieren sich gegenseitig. Jeder will Präsident werden. Und so wird ihr wichtigstes Ziel sein, vorgezogene Präsidentschaftswahlen durchzusetzten.“

Alla Jaroschinskaja ist die einzige Beraterin des Präsidenten, und die Unterrepräsentation der Frauen im politischen Leben der Russischen Föderation ist auch ihr Thema. Dem Wahlbündnis „Frauen Rußlands“ vertraut sie jedoch nicht: „In den Regionen mag es unabhängige Frauen geben, an der Spitze der Vereinigung stehen jedoch hauptsächlich ehemalige ZK- Mitglieder.“ Der einzige Ausweg aus der politischen Bedeutungslosigkeit der Frauen sieht Jaroschinskaja in der Gründung neuer Organisationen. „In den Volksdeputiertenkongreß der UdSSR sind die Frauen einfach delegiert worden. Jetzt müssen sie kämpfen.“ Eine Reihe neuer Verbände sei bereits entstanden, ein Club der Unternehmerinnen, ein Club der Uni- Frauen. Noch jedoch „braten sie im eigenen Saft“.

Die Frauen Moskaus stehen an den Bahnhöfen. An die Treppenaufgänge der U-Bahn-Schächte gedrückt, an den Wänden der unendlichen Unterführungen verkaufen sie Wodka und Zigaretten, Plastiktüten und Ledertaschen. Den einen Teil der Ware in der Hand, den anderen in der Tasche verborgen, unterhalten sich die Frauen übers „Geschäft“ und schimpfen auf die Politiker. Die offensiveren Lebensmittelverkäuferinnen preisen ihre Waren an. Die Kundinnen tauchen mit dem Finger vorsichtig in den weißen Rahm, betasten die Haut der ausgenommen Gans. Auf Plastikfolien liegt unverpackt frisches Fleisch. Die Kälte sorgt für Haltbarkeit.

Zwischen den Frauen gibt es Unterschiede. Vor dem Leningrader Bahnhof steht eine Moskauerin, die ein frisches Weißbrot feilbietet und den Erlös dann für den Erwerb der nächsten Ware verwendet. Andere sind schon einen Schritt weiter: Sie haben einen Campingtisch, auf dem sie Nescafédosen stapeln. Es gibt Verkäuferinnen, die nur eine Zeitung anbieten, und solche, die über 30 Titel vor sich ausbreiten. Das Geschäft geht gut, nur um die Kaugummi- und Buchstände drängen sich mehr Käufer.

Die Miliz interessiert sich nicht allzusehr für den meist illegalen Handel. Und die Frauen kümmern sich nicht allzusehr um die Miliz. Wenn ein Milizionär den Auftrag hat, die Frauen zu vertreiben, geht er dicht an den Wänden der Unterführungen entlang. Die Frauen weichen in die Mitte der Gänge aus. Kurze Zeit später nehmen sie ihre alte Position wieder ein.

Ein Wahlkampf findet nicht statt. Es gibt keine Luftballons und keine Kugelschreiber. Es gibt nicht einmal Wahlplakate. Von einigen Ausnahmen der Wahlkreiskandidaten abgesehen. Wer, angelockt von dem Tönen eines Lautsprechers, um die nächste Straßenecke läuft, findet einen Lotteriescheinverkäufer. Und auch für diesen interessiert sich kaum jemand. Die Vertreter der Parteien treffen sich statt dessen im Fernsehstudio. Allabendlich um Viertel vor sieben beginnt die „Zeit des Auswählens“. Jeweils drei Wahlbündnisse stellen sich in rund dreißigminütigen Sendungen vor, anschließend wird das ganze in leicht veränderter Form noch mindestens zweimal auf anderen Kanälen wiederholt.

Die monologisierenden Kandidaten suchen ihr Publikum freilich vergebens, da in den Parallelprogrammen stets irgendeine Importseifenoper läuft. Doch auch zu den wenigen Wahlversammlungen kommen meist nur dreißig bis vierzig Zuhörer. Kein Wunder – über Ort und Termin der Veranstaltung werden selbst die Kandidaten erst wenige Stunden zuvor informiert. „Zu den Wahlen werden die Russen aber trotzdem fast alle gehen.“ Redakteur Schirow ist sich sicher. „Das ist bei uns immer so. Zuerst wird geschimpft und dann hält es doch keinen zu Hause“.

Zumindest einer kann sich über geringes Wählerinteresse nicht beklagen: Wladimir Schirinowski, Vorsitzender der Liberaldemokratischen Partei und bei den Präsidentenwahlen 1990 Rivale von Boris Jelzin, der von vielen als „russischer Hitler“ bezeichnet wird. „Schirinowski spricht die Seelen, die große Seele der Russen an, und daher wird er ins Parlament gewählt werden“, meint der Pressesprecher der „Partei der Russischen Einheit und Verständigung“, Sucharow. „Er spricht über die Leiden der Russen im Ausland. Und das spricht uns alle an. Er spricht über die Reformen, die uns allen das Leben schwer machen. Er hat immer recht. Er ist sehr gefährlich.“ Schirinowski will Rußland einen, und dazu ist ihm die Demokratie wenig nütze. Anhänger und Gegner haben nicht vergessen, daß er beim Augustputsch 1991 für die Erhaltung der alten Strukturen der UdSSR eintrat.

Sucharow arbeitet als Pressesprecher der Partei, die den aktivsten Wahlkampf führt: Ihr Vorsitzender Sergej Schachrai ist fast ständig auf dem Bildschirm zu sehen. Dennoch übt der kaum vierzigjährige Journalist sein Amt eher nebenberuflich aus. „Ich verdiene zwar eine ganze Menge Geld, und ich habe auch gute Kontakte, aber immer denke ich darüber nach, was ich Neues anfangen könnte. Und ich kontrolliere ständig die Inflationsrate.“ Sucharow ist Gründer einer deutsch-russischen Freundschaftsgesellschaft, er organisiert bei Journalisten Artikel über seine Partei, schreibt für Moskau News und Literaturnaja Gazeta. Sein wichtigstes Projekt ist jedoch der Aufbau einer Presseagentur. „Sie hat schon einige Skandale aufgedeckt.“

Wladimir Schirinowski ist bei weitem nicht der einzige Populist in diesem Wahlkampf. Der vorgeblich Liberale klagt vor Kosakenversammlungen über die „Not der russischen Landsleute“. Der Vorsitzende der Bürgerunion Arkadi Wolski lamentiert vor amerikanischen Geschäftsleuten über das „arme reiche Rußland“. Im neuerrichteten Nobelhotel Slawanskaja sitzen seine Ansprechpartner, und auch hier gibt es eine Einlaßkontrolle. Als Chef des Industriellen-Verbandes kämpft Wolski für die Interessen der Direktoren der Staatsbetriebe. Und diese können schließlich auch mit Westkapital gerettet werden. Für seine russischen Zuhörer hält der Mitstreiter des Oktoberputschisten Ruzkoi dagegen ein anderes Thema bereit: Vor laufenden Kameras deckt er mit großer Geste die US-Unterstützung des Wahlkampfes der Jelzin-Partei „Wahl Rußland“ auf. Ganz offenbar ist er der Ansicht, daß die Amerikaner aufs falsche Pferd setzen.

Jelzin selbst taucht im Wahlkampf nicht auf. Wer die Nachrichten verfolgt weiß kaum, daß das Land einen Präsidenten hat. Erst am Donnerstag abend forderte er in einer Fernsehansprache zur Teilnahme an den Wahlen auf. Er sprach von ihrer Bedeutung, ermahnte die BürgerInnen, für all diejenigen zu stimmen, denen es „um Taten, und nicht um Worte“ ginge. Am Tag zuvor hatten die Mitarbeiter des russischen Pressezentrums gegen Jelzins Entscheidung demonstriert, der Föderationsversammlung ihr Gebäude zur Verfügung zu stellen.

Es bleibt die einzige Demonstration in diesen Tagen. Selbst der Puschkinplatz, sonst Ort heftiger Diskussionen, ist wieder zu einem normalen Treffpunkt geworden. Am Eingang zur Metrostation sitzen die Bettlerinnen. In der Unterführung wird Musik gemacht. Eine der Verkäuferinnen liest ein Buch: „Business-English“.