■ Gastkommentar zum Uni-Streik: Gegen die Leistungsuni
Die Krise in den öffentlichen Finanzen ... verbietet einen umfassenden und langfristigen Aufbau neuer Universitäten und den Ausbau der vorhandenen. Man will sich vorläufig damit begnügen, mit der Ausschöpfung der ,unausgenutzten Kapazitäten‘ in der Universität. Eine höhere ,Out-put-Rate‘ ist aber gegenwärtig nur durch administrative Maßnahmen zu erreichen. Das ,Gespräch‘ über ,Reform‘ schlägt in bürokratischen Zwang um. Zwangsexmatrikulation, Studienzeitverkürzung und Studiengelderhöhung kennzeichnen die wirklichen Reformvorstellungen der Interessenvertreter des Staates. [...] Die bisher infolge starken Widerstands der Studentenschaft noch aufgeschobene Studienzeitverkürzung auf durchschnittlich 8 Semester [inzwischen 9, d. Red] bedroht ca. 50 Prozent der Studentenschaft. Zur Zeit beenden 40–50 Prozent ihr Studium nach dem 10. oder 11. Semester nicht, was zumeist auf finanzielle und psychologische Belastungen zurückzuführen ist. Eine Studienzeitverkürzung mit erhöhter Ausstoßquote und einer darauf wartenden Armee von Reserve-Studenten wäre in der Tat im Sinne der Effektivitätssteigerung ein ,Fortschritt‘, ähnlich wie von vielen die Beseitigung der Autonomie der Universität als Fortschritt im Sinne rationalerer Bewältigung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben betrachtet wird. [...]
Nur noch wenige Professoren lehren etwas über den Zusammenhang wissenschaftlicher Ausbildung und praktisch-politischer Tätigkeit im Namen der Vernunft gegen die Herrschaft der Unmündigkeit, der ,totgeschlagenen Materie‘ über den lebendigen Menschen. Aus dieser Trennung von Wissenschaft und Befreiungsbewegungen resultiert u.a. eine der symptomatischsten und erschreckendsten Erscheinungen des gegenwärtigen Studiums: die völlige Beziehungslosigkeit zwischen dem Professor und den Studenten.
In Kürze haben die jungen Studenten die Routine und Langweiligkeit der Vorführung des ,Materials‘ durchschaut, dann gibt es nur noch eine müde und mechanische Reaktion. Der Zusammenhang ist einleuchtend: Die Gesellschaft erwartet von der Universität mit zynischer Selbstverständlichkeit ,sozialisierte‘ und untertänige Staatsdiener.
Der ernsthafte Teil der Studentenschaft, das kritisch-antiautoritäre Lager, betrachtet die Studienzeit nicht als Rezeption bedeutungslosen Wissens, nicht als Durchgang zum sozialen Aufstieg in eine repressive Gesellschaft, nicht als lustigen Zeitvertreib oder pseudo-revolutionäres Happening, sondern als die der Mehrheit der Menschen systematisch verweigerte Möglichkeit, sich durch intensive Anstrengungen von den durch Vergangenheit und Erziehung verinnerlichten fremden Herrschaftsinteressen zu befreien, die spezifisch menschliche Verstandestätigkeit in sprengende Vernunft gegen die bestehende Gesellschaft zu transformieren. Die Niederlage dieser Studenten wäre der Sieg der Leistungsuniversität. Rudi Dutschke
Entnommen: „Demokratie, Universität und Gesellschaft (Wir sind dabei, die akademische Würde zu verlieren – und das ist gut so)“, in: „Geschichte ist machbar“ (Berlin: Wagenbach, 1980)
Siehe auch Seite 25
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