Neues Fundament für Rußlands Bürgergesellschaft

■ Die neue Verfassung, die bei einer Beteiligung von rund 53 Prozent mit knapper Mehrheit angenommen wurde, wird Auseinandersetzungen provozieren

Schwindender Enthusiasmus für Wahlen und Referenden ist in den ehemals realsozialistischen Ländern eine gängige Erscheinung: Die Wahlpflicht ist nicht mehr „Ehrenpflicht“. Die BürgerInnen sind voll damit beschäftigt, ihr Alltagsleben in der „Übergangsgesellschaft“ zu organisieren und haben außerdem oft das Gefühl, daß es egal ist, unter welcher Regierung bzw. welchem Regierungssystem sich ihre materielle Lage verschlechtert. Gemessen daran ist die Beteiligung von 53,2 Prozent am russischen Verfassungsreferendum (Stand Montag mittag) keine Katastrophe – vor allem wenn man bedenkt, daß in einigen Republiken der Föderation zum Boykott der Abstimmung aufgerufen wurde.

Dennoch vereinten sich die Stimmen der Erleichterung im Regierungslager zu einem wahren Seufzer-Chorus. Jetzt erübrigt sich die peinliche Frage, auf welchen konstitutionellen Grundlagen eigentlich regiert werden soll, wenn es keine Verfassung gibt, oder ob nicht sogar das alte Verfassungs- Monstrum mit seinen sich diametral widersprechenden Prinzipien wieder – vorübergehend – in Kraft gesetzt werden muß. Ab gestern gilt also die (in der taz vom 12.11. analysierte) Präsidialverfassung.

Welche Mittel gibt die neue Verfassung Jelzin in die Hand, falls die Parlamentsmehrheit sich weigern sollte, Jegor Gaidar als Premier zu bestätigen, oder ihn zwar bestätigt, aber nicht daran denkt, seinem Reformkurs zu folgen? Der Präsident kann die Staatsduma, das „Unterhaus“, auflösen und Neuwahlen ansetzen, falls das Parlament sich dreimal weigert, den von ihm ernannten Premier zu bestätigen. Falls der Premier die Vertrauensfrage stellt bzw. mit einem Mißtrauensvotum konfrontiert ist, braucht er im Fall der Niederlage nicht zurückzutreten. Erst im Falle einer zweiten verlorenen Abstimmung binnen drei Monaten muß der Präsident die Regierung entlassen – oder er kann wiederum Neuwahlen ansetzen.

Dieses uneingeschränkte Recht auf Parlamentsauflösung wird sich sicher in der Hand Jelzins als wirksames Disziplinierungsinstrument erweisen. Die neue Verfassung ist hier entschieden weiter gegangen als die französische oder polnische Präsidialverfassung, die als Vorbilder dienten. Jelzin kann auch beliebig zum Mittel der Dekrete greifen, kommt aber letztlich nicht am Budgetrecht der Staatsduma vorbei, dem einzigen wirklichen Machtmittel, über das das Unterhaus verfügt.

Die neue Verfassung gibt Jelzin auch das Recht, die Kandidaten aller drei obersten Gerichte zu nominieren. Sie müssen allerdings vom „Oberhaus“, dem Föderationsrat, bestätigt werden. Diese der US-amerikanischen Verfassung nachmodellierte Bestimmung ist in der nächsten Phase der russischen Geschichte deshalb so bedeutungsvoll, weil Rußland über kein rechtsstaatlich ausgebildetes Richterpersonal verfügt und die „dritte Gewalt“ in den Augen der Bevölkerung nur über geringes Ansehen verfügt. Auch für den Fall des impeachment, der Absetzung des Präsidenten, ist die personelle Zusammensetzung des Verfassungsgerichts wichtig, erstellt dieses Gremium doch das Basisgutachten, das den Absetzungsprozeß durch beide Häuser des Parlaments in Gang setzt. Ob in Rußland künftig rechtsstaatliche Strukturen entstehen, wird deshalb nicht zuletzt davon abhängen, ob Jelzin in seiner Besetzungspolitik Umsicht und Pluralismus walten läßt.

In der neuen Verfassung findet sich ein ausgedehnter Grundrechtskatalog. Die Grundrechte gelten – wie auch die internationalen Menschenrechtspakte – unmittelbar und sind in den meisten Fällen nicht nur auf das berüchtigte „Das Nähere regelt ein Bundesgesetz“ eingeschränkt. Auch das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ist hier – erstmals in der russischen Geschichte – verankert. Aber ob die Achtung vor den Grundrechten die Praxis der russischen Bürokratie bestimmen wird, hängt in den nächsten Jahren mehr vom Elan der demokratischen Reformer ab als von der erst im Entstehen begriffenen Bürgergesellschaft. Das trifft natürlich in erster Linie auf die Repressionsorgane – Miliz, Staatsschutz, Militär – zu, aber auch auf den Verwaltungsapparat allgemein. Gegenwärtig ist der Grundrechteschutz der Verfassung nicht mehr als eine gut gemeinte Absichtserklärung.

Einer Reformregierung wird durch die neuen Verfassungsartikel, die das private Recht auf Grundeigentum und auf Eigentum an Produktionsmitteln garantieren, sicher die Arbeit erleichtert werden. Zweimal wurde in der russischen Geschichte eine Bodenreform versucht, zweimal ist sie gescheitert. Trotz der Verfassungsgarantie wird die Privatisierung des Bodens auch jetzt auf den Widerstand vieler Kolchos- und Sowchos-Angehörigen treffen. Die neostalinistische KP, die mit ihr verbündete Agrarpartei und die Front der Rechtsradikalen sehen hier ein aussichtsreiches Terrain, den „russischen“ Weg des Kollektiveigentums am Boden zu verteidigen.

Auch hinsichtlich der sozialen Grundrechte, die die Verfassung festschreibt, sind die schärfsten Auseinandersetzungen angesagt. Obwohl es so aussieht, als ob das Recht auf Arbeit lediglich eine Staatszielbestimmung darstellt, ist es überhaupt nicht ausgemacht, ob nicht andere soziale Grundrechte gerichtlich geltend gemacht werden können. Allgemein bestimmt die Verfassung die Gleichberechtigung aller Eigentumsformen. In einem Land, in dem die Erbschaft der Zwangsvergesellschaftung noch übermächtig ist, kann dieser Verfassungssatz eher zur Bremse werden, als daß er den freiwilligen genossenschaftlichen Zusammenschluß schützen würde.

Das Verhältnis der Republiken, Autonomien und Gebiete der rußländischen Föderation zur Zentralgewalt ist im Föderationsvertrag von 1992 festgelegt, der also noch in die Verfassung inkorporiert werden muß. Im Licht der neuen Verfassungsbestimmungen erscheint der Präsident als Hüter der Unionseinheit und Schiedsrichter bei Streitigkeiten zwischen der Zentralmacht und den Unionssubjekten – eine Rolle, die weit über die Befugnisse des amerikanischen und französischen Präsidenten hinausgeht und ungute Erinnerungen an die zerfallende Weimarer Republik weckt.

Auch die Notstandsbefugnisse des Präsidenten, die allerdings an die Zustimmung des „Oberhauses“, des Föderationsrates, gebunden sind, könnten sich, wenn die „Einheit Rußlands“ beschworen wird, verheerend auf den Prozeß der Föderalisierung und Dezentralisierung auswirken. Beide Prozesse aber sind grundlegend für Rußlands Weg in die Demokratie. Hier wäre auch einer der Hebel, den Großmachtchauvinisten vom Schlage Schirinowkis ansetzen könnten, um die demokratische Substanz der Verfassung zu beseitigen – falls sie dazu Gelegenheit bekommen sollten. Christian Semler