: „Ohne eine Aufgabe geht man ein“
■ Medizinischer Notstand in Flüchtlingsheimen: Hochqualifizierte bosnische Ärzte dürfen nur als Privatpersonen kranke Flüchtlinge betreuen / Die Untätigkeit zerstört den Lebenswillen der Flüchtlinge
Sie warten schon seit Stunden. Dichtgedrängt stehen die Kriegsflüchtlinge im zugigen Eingang ihres neuen Zuhauses, dem Heim in Hohenschönhausen. Kinder, Alte, Jugendliche, Bosnier und Kroaten. Sie halten Ausschau, wie jeden Dienstag um diese Zeit. Als Alvin Huremovich endlich kommt, umringen sie den schmächtigen Mann, bestürmen ihn mit Fragen, zeigen ihm ihre Verletzungen und Medikamente. Jeder will zuerst mit dem Arzt aus Bosnien sprechen, jeder will seinen Rat.
Ein Familienvater mit einem Herzleiden besitzt einen ganzen Karton voll mit Medikamenten. Er nimmt sie alle ein, ohne die leiseste Ahnung, welche Tablette für welches Organ bestimmt ist, oder wie sie dosiert werden müssen. Der deutsche Arzt hat sie verschrieben, die Erklärung scheiterte an den Verständigungsschwierigkeiten. Alvin hat den Karton vor sich ausgeleert unhd sortiert die Medikamente nach Anwendungsgebieten. „Manchmal schlucken die Patienten Zäpfchen oder sogar Einreibemittel aus Unwissenheit herunter.“ Langsam arbeitet er sich von Zimmer zu Zimmer. Eine Frau ist trotz Verhütung schwanger geworden. Zur maßlosen Überraschung ihres Gynäkologen. Durch behutsames Fragen findet Alvin heraus, daß sie die Pille nur genommen hat, wenn ihr Freund zu Besuch kam.
Im Nachbarzimmer wohnt eine alte Frau, deren Bein mit eitrigen Geschwüren bedeckt ist. Zu einem deutschen Arzt will sie trotzdem nicht, weil der sie nicht versteht. Alvin kann nur durch Überredungskünste, Beratung und Erklärungen helfen. Er selber darf weder behandeln noch Medikamente verschreiben. Er kommt als Privatperson her, arbeitet unbezahlt, denn die Ärzte unter den Kriegsflüchtlingen dürfen in Deutschland nicht arbeiten. Noch nicht einmal in der Flüchtlingsbetreuung, obwohl sie in den Heimen dringend gebraucht werden.
Die drückendste Sorge ist die qualvolle Untätigkeit. Sie zerstört den Lebenswillen und das Selbstwertgefühl. „Das kann sich keiner vorstellen, der das nicht selber erlebt hat“, sagt Alvin. „Auf die Dauer ist eine Aufgabe genauso wichtig wie Nahrung. Wenn man die nicht hat, geht man ein.“ Der 33jährige weiß, wovon er redet. Über ein halbes Jahr lebte er ohne jede Beschäftigung mit seiner Frau und den zwei kleinen Söhnen in einem 16 Quadratmeter großen Zimmer. Bald wurde es ihm unmöglich, die Tage auszufüllen. „Ich geriet in Konflikt mit mir selber und mit meiner Familie, wurde unausstehlich und depressiv. Das Leben schien keinen Sinn mehr zu haben.“ Die Chefin des Südosteuropa Kultur e.V., Bosiljka Schedlich, war es, die ihm schließlich aus der Krise half. Sie ermutigte ihn, gemeinsam mit einigen Kollegen freiwillige Hilfe in den Heimen zu leisten. Der eklatante Notstand in den Unterkünften gab Alvin seinen Lebenswillen zurück. „Es ist absurd, daß die Ärzte bei uns nicht arbeiten dürfen. Sie werden dringend gebraucht. Bei uns melden sich hochqualifizierte Leute. Internisten, Chirurgen, Kräfte, um die man sich sonst reißen würde, sitzen hier untätig herum.“
Schon seit zwei Jahren kämpft die Bosnierin mit zäher Energie um eine eingeschränkte Arbeitserlaubnis für die Mediziner. Doch der Gesundheitssenator winkt ab. Mit 5.400 deutschen Ärzten seien die Berliner medizinisch überversorgt. Es herrsche also kein offizieller Notstand, und ohne den würde die kassenärztliche Vereinigung keinen Arzt aus den Kriegsgebieten zulassen. Daß dieser Notstand längst ausgebrochen ist, will keiner der Verantwortlichen wahrhaben. Rund 40.000 Kriegsflüchtlinge, viele schwer traumatisiert, sind auf Ärzte angewiesen, denen sie nicht erklären können, was ihnen fehlt. Arztbesuche schaden oft mehr, als daß sie nutzen. Die Hemmschwelle, überhaupt eine Praxis aufzusuchen, ist enorm. Und das, obwohl die Krankheitsquote in den Heimen auf 60 Prozent geschätzt wird.
Dennoch hat Frau Schedlich mit ihrem unermüdlichen Einsatz einen kleinen Durchbruch erreicht: Im November bewilligte der Senat 200.000 Mark für ein Selbsthilfeprojekt zur psychosozialen Beratung für die Flüchtlinge. Ein mobiles Ärzteteam wird in den Heimen wöchentliche Sprechstunden einrichten und ihre Diagnosen an die deutschen behandelnden Ärzte weitergeben. Tita von Hardenberg
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen