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Gibt es eine eigene Ostkunst?

■ Zwei Ausstellungen auf Kampnagel versuchen eine erste Positionsbestimmung

Die zahlreichen Begegnungen mit Kunst und Künstlern aus Osteuropa im Umfeld der Messe ART-Hamburg machen es dieser Tage in Hamburg nicht leicht, liebgewonnene Vorurteile zu behalten. Gibt es überhaupt so etwas wie „Ostkunst“? „Nein“ sagt Stanislav Kolibal aus Prag, aber „Ja“ sagt Pawel Pepperstein aus Moskau. „Das müssen die Kritiker entscheiden“ sagt Emilia Kabakov, Frau des im Westen bekanntesten russischen Künstlers mit neuer Heimat New York, Ilja Kabakov.

Die neu-alte Dominanz Russlands, das mit allein mehr als 70 Galerien in Moskau das Interesse auf sich konzentriert, überlagert den differenzierten Blick auf den Teil des Ostens, der noch am Anfang dieses Jahrhunderts als Mitte Europas galt: Tschechoslowakei und Ungarn. Da die Deichtorhallen schon langfristig verplant waren zeigt Zdenek Felix als ausgewiesener Fachmann seine Auswahl von je drei Prager Künstlern aus der älteren und der jüngeren Generation in der Halle K 3 auf Kampnagel. Situation Prag ist eine Situation am Scheideweg der Möglichkeiten, wie Peter Lysacek mit paradoxem Humor formuliert. Seine Draisine mit Kinderstuhl aus Eisen rollt auf ein technisch nicht befahrbares Gleisdreieck zu, dessen Schienenpaare auseinander und in neuer Paarung wieder zusammenlaufen: ein autonomes Kunstwerk und ein Arbeitsinstrument für Reflexionen. Mit Blech und Asphalt baut Peter Pisarik riesige Batterien, referiert auf die Energie der Sonnenblumen und die Tendenz zu modischer Gleichschaltung.

Freiheit als Unterwerfung unter freiwillige Tortur spricht Milena Dopitova mit ihren Großfotos aus Frisiersalons und den kunstseidenen Trockenhaubenskulpturen an. Zwölf mit surrealen Krankheiten befallene Masken hängen über samtausgelegten Glaskästen mit wunderschön gearbeiteten, futuristischen Tötungsinstrumenten, zynischer Kommentar von Milan Knizak zu Gewaltkulten aller Art. Eine Sexpuppe als Maria und bewußt verworrene Bilder: „Ich hasse klare Botschaften, wir brauchen Unruhe“ sagt der inzwischen zum Rektor der Prager Akademie avancierte Künstler, der schon 1968 in der Kunsthalle eine große Ausstellung hatte.

Zwanzig Jahre brannte dann das Kulturleben der CSSR knapp oberhalb des Gefrierpunkts. Aber das die Künstler von allen Informationen abgeschitten waren und erst nach dem Zerfall des Ostblocks wieder arbeiten konnten - das ist eine falsche Rechtfertigung, die Stanislav Kolibal, abstrakter Plastiker in der Tradition tschechischer Konstruktivisten der 20erJahre, als Legende entlarvt. Ein zentraler Vorwurf westlicher Kritik an die Ostkunst ist, diese sei durch und durch epigonal. Doch der dahinterstehende Kunstbegriff selbst ist zweifelhaft. Der Stellenwert originärer Einzelwerke ist in einer kommunikativ vernetzten Gesellschaft fragwürdig. Für 50 Künstler und Künstlerinnen aus Budapest ist Epigonentum ein positiver Begriff. Ihnen ist gemeinsame Arbeit und das Denken wichtiger als das einzelne Kunstwerk. Im Vorfeld der Hamburger 2. Epigonale haben sie lieber eine Zeitung zum Gedankenaustausch gegründet, als Geld für prächtige Objekte auszugeben. In der Ausstellung auf Kampnagel sieht es nun aus, wie beim Atelierfest in der Böhmler-Klasse der Hamburger Kunsthochschule: locker improvisiert und frech zitiert.

Schallplatten werden rückwärts abgespielt, Kunstmagazine zu Pissoirmodellen verarbeitet, ein Kunst-Streik ausgerufen und Zettel mit witzigen Ideen an die Wand gepinnt. Offene Rückgriffe auf Fluxuskunst sind weniger östlich-epigonal als Teil eines auch westlich üblichen immer schnelleren Recyclings der Kunstmoden. Pflastersteine mit Aufschrift „Ich liebe Dich“, Blindenschrift auf dem Videobildschirm und Tauchsieder im Kühlschrank demonstrieren Energieverschwendung auf Titanic-Niveau. Wo alles geht, gibt es keine West- oder Ostkunst: nur reiche und arme. Hajo Schiff

Situation Prag: K3 , Di-So 16-20 Uhr, Epigonale: KX , Do-So 16-20 Uhr, beide bis 9.Januar

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