: Von seinen Fesseln befreit
■ Kumpelhafter Medienzynismus – Ein Interview mit Max Müller über die Klage seiner Gruppe „Mutter“ gegen den „tip“
Claudia Schandt: Die Band „Mutter“ führt gegenwärtig gegen die Stadtzeitung tip eine Schadensersatzklage. Anlaß war eine von tip -Musikredakteur Christian Beyer verfaßte Besprechung zu eurer CD „Du bist nicht mein Bruder“. Beyer schrieb im tip 9/93 : „Das Bild leuchtet hell und deutlich: vier HIV-Positive, die mit letzter Kraft ihre Organe und Instrumente malträtieren, ihren ganzen Haß und Ekel auskotzen, um nach getaner Arbeit leise zu verrecken.“
Max Müller: Ich hatte eher den Eindruck, dieser Christian Beyer kotzt da seinen Haß und Ekel aus. Eigentlich ist das ja in unserem Sinne, wenn sich jemand fallenläßt und von seinen Fesseln befreit.
In dieser Besprechung mit dem Untertitel „Bei ,Mutter‘ brechen alle Dämme“ kommen des weiteren der „Straßenstrich der Tiergartenstraße“, die „geschlossene Abteilung in Bonnie's Ranch“ und andere „Metaphern“ vor. Wie habt ihr darauf reagiert?
Wir haben mit Hilfe eines Rechtsanwaltes durchgesetzt, daß der tip erst einmal eine Gegendarstellung abdrucken mußte.
Manche haben diese Gegendarstellung so verstanden, daß ihr Angst davor hättet, als HIV-Positive dargestellt zu werden.
Die Behauptung, daß wir Angst davor hätten, als HIV-positiv bezeichnet zu werden, ist ein Versuch, uns als unglaubwürdig darzustellen. Der tip hätte wenigstens nachträglich merken müssen, daß ihm eine ekelhafte Entgleisung unterlaufen ist.
Es gibt in diesem Text eine weitere Passage, die mir auffiel: „Kranker Stolz oder stolz auf die eigene Krankheit – roher kann man heute Gefühle nicht aus sich rauswürgen. Selbst wenn dabei das eine oder andere Schräubchen auf der Strecke liegenbleibt.“ Mir kommt es so vor, als sei der Autor einerseits tief berührt, voller latenter Aggression gegen eure Musik, andererseits darum bemüht, diese Gefühle durch ironische Übersteigerung zu bremsen. Wie hat Christian Beyer selbst seine Ausfälle begründet?
In einer Stellungnahme an den tip-Verlag hat er folgendes geschrieben: „Der Begriff ,Krankheit‘ war im Berlin der frühen achtziger Jahre, als die Künstlergruppe ,Geniale Dilettanten‘ berühmt wurde, in der Presseberichterstattung ein fester Begriff: man redete von der sogenannten ,Berliner Krankheit‘. Dieser Querverweis von mir war als Kommentar zu der Tatsache gedacht, daß ,Mutter‘ das Publikum jener Tage für sich gewinnen möchte.“
Eigentlich würde man erwarten, daß tip und speziell natürlich Christian Beyer Ärger mit Act- Up-Gruppen bekommen würden.
Haben wir auch gedacht.
Hat Christian Beyer sich schon entschuldigt?
Nein, im Gegenteil. Man wollte die Angelegenheit lieber im gegenseitigen Einverständnis regeln. Nach dem Abdruck der Gegendarstellung von „Mutter“ wäre die Sache ja erledigt. Der tip schrieb unter die Gegendarstellung, „unser Autor Christian Beyer hat in seinem Text lediglich eine Assoziation beschrieben“. Und Beyer in seiner Stellungsnahme an den Verlag: „Die ganze Aufregung ist um so unerklärlicher, da der Beitrag in einem versöhnlichen Ton schließt.“ Schließlich versuchten der Anwalt des tip und Beyer das Gericht mit Hilfe unserer Songtexte zu überzeugen, daß „Mutter“ ja auch nicht gerade zimperlich ist.
Was hat man da angeführt?
Das hier ist noch so ein Satz aus dem Rechtfertigungsschreiben von Christian Beyer: „Die Formation ,Mutter‘ prahlt mit Attributen wie ,härteste Band‘ Berlins und läßt auch durch Außendarstellung, Texte und Musik keinerlei Zweifel, daß sie in erster Linie an Randthemen der Gesellschaft wie z.B. Grausamkeiten, Perversionen und Pornographie interessiert ist und dies auch künstlerisch vermitteln möchte.“
Seid ihr etwa nicht an Randthemen interessiert?
Grausamkeit ist doch kein Randthema! Und außerdem interessiert mich die künstlerische Vermittlung von Pornographie und Perversion überhaupt nicht.
Wißt ihr, ob es Reaktionen der tip -Leser gegeben hat?
Es gab einige Leserbriefe, die sich auf die „Kritik“ von Beyer bezogen. So hat z.B. Christoph Gurk, Chefredakteur des Spex, einen geschrieben. Mich haben später einige angesprochen, die auch geschrieben haben. Keiner davon ist allerdings veröffentlicht worden. Interview: Claudia Schandt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen