: Lebensplanung von Bundeswehr überrollt
■ Bundeswehr zieht überraschend 12.000 Westberliner des Jahrgangs 1969 ein / Betroffene wollen sich wehren
„Ich kann doch wegen der Bundeswehr nicht einfach meine Arbeit schmeißen“, empört sich der 24jährige Kraftfahrer Bernd. Mit seiner Empörung steht er nicht allein. Rund 12.000 Westberliner des Jahrgangs 1969 sehen sich jetzt plötzlich mit Musterungsladungen und Einberufungsbefehlen konfrontiert. Christian Herz, Sprecher der „Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär“, der fast hundert pazifistisch orientierte Vereine und Parteien angehören, spricht von einem Skandal und von einer bewußten Irreführung. Es handele sich hierbei auch um einen Versuch der Bundeswehrführung, auszuprobieren, wie weit sie gehen könne.
Die heute 24jährigen Männer sind im entmilitarisierten West- Berlin aufgewachsen. Folglich hatten sie sich – anders als Gleichaltrige in Westdeutschland – nie mit einer möglichen Dienstzeit in der Bundeswehr auseinandersetzen müssen. Doch mit der Vereinigung und dem Ende des Viermächtestatus der Stadt wurde die bundesdeutsche Wehrgesetzgebung auch in Berlin gültig. Seitdem werden Jugendliche ganz normal eingezogen.
Zwar hat das Verteidigungsministerium seinerzeit nie gänzlich ausgeschlossen, daß auch ältere Männer bis zum Jahrgang 68 nachgemustert werden können, doch eindeutige Aussagen gab es nicht. Selbst der damalige Leiter des Berliner Kreiswehrersatzamtes 1, Herbert Pauer, hatte im Juli 1991 erklärt, daß die Westberliner Jahrgänge bis 1969 vom Dienst mit der Waffe verschont bleiben würden, weil diese Jahrgänge für eine Einberufung zu alt seien. Dies sei lediglich die private Meinung des inzwischen abgelösten Pauer gewesen, betont nun die Sprecherin des Wehrbereichskommandos. Im übrigen fühle sie sich außerstande, weitere Auskünfte zu geben. Doch laut Wehrpflichtgesetz seien die nachträglichen Einberufungen Rechtens.
Wenig Trost für die jungen Arbeiter und Studenten, die sich getäuscht fühlen. Der 24jährige LKW-Fahrer Bernd ist einer von 700 Arbeitern und Studenten, die sich nun dagegen wehren wollen, daß ihre Lebensplanung durch staatliche Eingriffe rückwirkend verändert werden soll. „Wenn die früher gekommen wären, hätte ich ja nichts dagegen gehabt – aber so? Ich habe eine Frau und ein Kind zu versorgen, und meine Freundin ist arbeitslos. Wenn die mich einziehen, kann sie zum Sozi rennen!“ argumentiert Bernd.
Mit zwei Petitionen an den Bundestag und an das Abgeordnetenhaus wollen die Männer gegen die nachträgliche Erfassung, Musterung und Einberufung des Jahrgangs 1969 durch das Kreiswehrersatzamt protestieren. Am kommenden Samstag um 13 Uhr wollen sich die von der Einberufung Bedrohten zu einer Demonstration am Adenauerplatz treffen. Anschließend sollen die Musterungsbescheide öffentlich zerschnippelt werden. Peter Lerch
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