: Verrückte Hühner, Discos und Indianer
■ Am vermeintlich Heiligen Abend gibt es viele Chancen, ungeliebten Traditionen oder der Einsamkeit zu entfliehen / Auf zur Weihnachts-Party, dem Techno-Treffpunkt oder der Familie direkt in der Kneipe
Mit unglaublich heiligen Gesichtern werden am Freitag abend Tausende von Menschen aus den Kirchen durch die Straßen strömen – höchst zufrieden mit sich, weil sie die Geschichte sogar kannten, die ihnen soeben erzählt wurde. Wen es nun nicht zu lieben Verwandten und geschmückten Tannenbäumen zieht, braucht sich keineswegs im stillen Kämmerlein zu verkrümeln. In Berlin bietet sich den weihnachtlichen Ersatzsuchern und Totalverweigerern ein breitgefächertes Programm.
Ganz und gar unheilig verspricht der Techno-Abend in Friedrichshain zu werden. Schon ab neun Uhr können sich Traditionsbrecher in der Alten Brauerei in der Pufendorfstraße ihre Zwerchfelle laut Ankündigung von 10.000 Watt durchmassieren lassen. Vor allem im Ostteil Berlins läßt sich am 24. schon früh am Abend weihnachtsfrei tanzen, das gilt nicht nur für die Techno-Fans: Ebenfalls um neun lädt in Mitte der Sophienclub in der gleichnamigen Straße zur Disco „Der Strohmann“ ein, zur gleichen Zeit werden die Hard-Rocker nach Lichtenberg pilgern. Diese erwartet im „Halford“ in der Hertzbergstraße unter anderem härteste Live-Musik. Wer langsam in die Jahre kommt und daher lieber schon etwas früher ins Bett geht, kann sich freuen, denn auch die Oldienacht im Marzahner Springpfuhlhaus beginnt um neun. Eine Stunde später startet die Dark Wave Night im Prenzlberger Dunckerclub, im nicht weit entfernten Knaack in der Greifswalder Straße ist Disco.
In Westberlin sind rote Mäntel und weiße Bärte zwar keine Pflicht, aber getanzt wird deutlich weihnachtlicher: Zum „Christmas Eve Dance“ lädt der Pleasure Dome in der Kreuzberger Hasenheide am späteren Abend; Disco schließt sich gar nicht weit davon, im SchwuZ, an eine Weihnachtsshow an. Besonders wilde Mischungen versprechen die Heiligen Abende in Schöneberg und – Trendsetter aufgepaßt – in Weißensee: Die obligatorische Weihnachtsgans mischt sich in der Turbine Rosenheim, Rosenheimer Straße/ Ecke Eisenacher Straße, unkonventionell in ein Krippenspiel mit integrierter Party ein. Eine Tombola gehört im Nordosten der Stadt zur Weihnachtsparty 93 wie auch Live-Musik. Selbst Striptease kündigt das House of Music für einen langen Abend an, der in der Langhansstraße bereits um acht beginnt.
Keiner feiert gerne mit einem Satiriker
Doch nicht alle Christbaum- Flüchtlinge müssen das Tanzbein schwingen oder dieses freilegen und die Hosen runterlassen. Zwar findet die ultimative Weihnachtsrevue im BKA mit anschließender Geisterstunde nicht statt, doch für Kabarettfreunde gibt es Hoffnung: In der Scheinbar am Kleistpark hat sich Winnetou als Weihnachtsgast eingeladen. Und im Chamäleon- Varieté läuft eigentlich „die ganz normale Show ,Ohne Proben ganz nach oben‘, aber es wird ein paar weihnachtliche Überraschungen geben“, verspricht Mitarbeiterin Sandra Walter. Beginn in der Rosenthaler Straße ist erst um zehn, die Mitternachts-Show fällt aus.
Mit dem Satiriker Wiglaf Droste scheint keiner feiern zu wollen: Der Titanic-Autor tingelt während der Feiertage durch Berlin und liest dort lautstark. Am Freitag abend ist er ab zehn im Mora in der Kreuzberger Großbeerenstraße zu hören. Einen anderen Klassiker bietet die Brotfabrik: Dort wird um acht der Rühmann-Film „Die Feuerzangenbowle“ gezeigt.
Auch Kneipengänger werden am 24. kein Problem haben, ein Plätzchen zu finden. Alle drei Eierschalen, in Charlottenburg, Treptow und Dahlem, sind geöffnet. Zwischen Kotti und Moritzplatz sind einige Wirte im Einsatz, ebenso rund um den Savignyplatz. In Moabit bietet der Dicke Engel bis zwei Uhr nachts ein himmlisches Plätzchen. Gegen Pressemeldungen muß sich ausgerechnet das Mediencafé Strada in der Potsdamer Straße auf einem Zettel an der Tür wehren. Diese steht abends ab halb zehn offen. „Wenn das Familienprogramm vorbei ist, gibt's bei uns richtigen Kneipenbetrieb“, kündigt Martin „Selly“ Sellmann an: „Gekocht wird aber nur an den beiden Feiertagen.“ ca
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