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Stromern, wühlen, schmökern

■ Bücher aus Hamburg, die beitragen, sich in der Stadtgeschichte und in der Stadt etwas besser zurechtzufinden

Der Hamburger Ziegel

Ein dickes Ding, das schwer in der Hand wiegt, der 2. Hamburger Ziegel. Zwar läßt er sich nicht auf dem Ofen aufheizen, um ihn hernach im Bett die Füße wärmen zu lassen, doch birgt das neue Hamburger Jahrbuch für Literatur jede Menge Lesestoff zwischen Poesie und Dramatik, zwischen Kulturpolitik und Kulturgeschichte. Neben Texten Hamburger Koryphäen wie Wolfgang Borchert, Hubert Fichte und Hans Henny Jahnn finden sich die Fingerübungen der Literaturstipendiatinnnen und -stipendiaten des Jahres und Betrachtungen der Kultursenatorin und Literaturwissenschaftlerin Christina Weiss, deren Behörde die Produktion des Ziegels wieder unterstützte. Deshalb hätte sich Mitherausgeber Jürgen Abel im Ziegel-Interview mit der Senatorin aber nicht gleich als Stichwortgeber fühlen müssen. Trotzdem: An die Standpunkte, die die Politikerin zu Protokoll gibt, wird man sie auch 1994 erinnern dürfen, wenn weiterhin Streichungen den Haushalt bestimmen. Die Schmerzgrenze beim Sparen liege „bei jeder Mark und überall da, wo Qualität durch Kürzungen kaputtgeht - das wäre nicht zu verantworten“, so Senatorin noch hoffnungsvoll im Gespräch.

Der Ziegel zeichnet sich durch Freude an der Widersprüchlichkeit der Texte und Formen aus, und so schließt sich an das Gespräch ein unterhaltsamer Protestbrief der Schriftstellerin Regula Venske an den städtischen Literaturreferenten an: „Herr Literaturreferent, ist es schlimm, wenn ich bei meinem Thema bleibe? Und weiterhin glücklich bin? Auch wenn ich dann nie, nie einen Literaturpreis bekomme?“ Vielleicht bekommen wir im nächsten Ziegel die Antwort von Herrn Schömel.

Wolfgang Schömel, seit 1989 Literaturreferent in der Kulturbehörde, hat einige Seiten zuvor selbst zugeschlagen, um das Bild des gemeinhin als schlecht bekannten Umgangs der Stadt mit Literaten ein wenig zurechtzurücken. Denn auch die öffentlichen Kulturförderer haben's schwer und nähren die Künste eher mühsam als redlich, wie er in dem Aufsatz „Hamburg vertreibt Künstler, z. B. Hans Henny Jahnn“ anschaulich macht und damit auch auf die Feierlichkeiten im kommenden Dezember zum 100. Geburtstag des Literaten, Orgelbauers und Verlegers Jahnn hinweist.

Über 50 Autorinnen und Autoren zeichnen die widersprüchlichsten Bilder der Gefühle in der Stadt, von Hans Henny Jahnns Besuch „Bei Hagenbeck“ bis zu Jan Philipp Reemtsmas Vortrag über die „Hinrichtung“ von Ideen und Gedanken „Wo man Menschen verbrennt, verbrennt man auch Bücher“, den er am 10 Mai 1993 im Literaturhaus hielt, 50 Jahre nach der Bücherverbrennung, die nationalsozialistische Studentenvereine veranstalteten, als bereits Tausende von Menschen in Nazi-Lagern drangsaliert wurden. jk

Hamburger Ziegel, Jahrbuch für Literatur 2, Dölling und Galitz Verlag, 25 Mark

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Geschichte entdecken

Daß sich immer mehr Hamburger Bürger für die Geschichte der Stadt im Nationalsozialismus interessieren, ist ein erfreuliches Zeichen von neuer Wachheit. Daß sich einige in ihrer Freizeit dann sogar so intensiv mit dem Thema beschäftigen, daß dabei lesenswerte Veröffentlichungen mit durchaus wissenschaftlich systematisiertem Material entstehen können, macht neben der Freude darüber allerdings auch schmerzlich klar, wie sträflich vernachlässigt von den eigentlich zuständigen Organen dieses Terrain nach wie vor brachliegt. Dabei ist es ja gerade die Stadt- beziehungsweise hier die Stadtteilgeschichte, die historische Ereignisse durch die Unmittelbarkeit des Ortes plastisch nachvollziehbar macht.

Die Publikationen von Harald Vieth und einem Frauenkollektiv der Galerie Morgenland haben nun aus privater Initiative heraus das Zusammenleben mit und die Vertreibung und Vernichtung der Juden in „ihrem“ Stadtteil untersucht. Vieth, ein klassischer Privat-Historiker, der zuvor bereits in Veröffentlichungen jüdische Lebenswege in seinem Wohnhaus und dem Grindelviertel in einer sehr persönlichen Art verfolgte, hat nun einen weiteren Band über jüdische Schicksale in Harvestehude-Rotherbaum herausgebracht. Unter dem Titel Hier lebten sie miteinander beschreibt er Historisches, Biografisches und Alltägliches aus dem Leben jüdischer Familien links der Außenalster.

Vieth gliedert die Familien- und Einzelporträts nach Adressen, so daß immer eine Verbindung zwischen Ort und Persönlichkeit entsteht. Anhand dieser Rundgänge zu den Wohn-, Lehr- und Versammlungsorten jüdischer Hamburger rekonstruiert er aus Erzählungen und Korrespondenzen mit ehemaligen Hamburger Bürgern, die emigrieren konnten, aus Briefen und anderen alten Aufzeichnungen die Geschichte der von dort vertriebenen jüdischen Familien. Die vielen persönlichen Schilderungen geben ein beklemmendes Bild von der zunehmenden Isolierung und Anfeindung, die schließlich zu der Zerstörung des jüdischen Guts und der Vernichtung der Menschen führte. Die Geschichte der Gebäude verfolgt Vieth in dem reich bebilderten und liebevoll gestalteten Band teilweise bis in die Gegenwart, um zu zeigen, wie ignorant die Stadt mit ihren historischen Orten verfährt. Durch die einfühlsame und persönliche Schilderung gewinnt man einen sehr realen Eindruck von der Feindlichkeit, aber auch von den menschlichen Ausnahmen.

Auch Wo Wurzeln waren..., die Rekonstruktion der Zeit von 1933-45 in Eimsbüttel durch eine Arbeitsgruppe in der Galerie Morgenland, versammelt eine große Zahl persönlicher Erinnerungen und Aufzeichnungen, ist aber in Recherche und Anspruch wesentlich wissenschaftlicher. Thematische Kapitel, etwa zu einzelnen Berufsgruppen oder Exkurse über „Arisierungen“, Emigration oder jüdische Patienten der Psychatrie, verleihen der Textsammlung mehr Hintergründigkeit und Analyse. Daß aber trotzdem auch hier die Schicksale von Familien und Einzelpersonen im Vordergrund stehen und überwiegend in Selbstzeugnissen dargestellt sind, verleiht dem Band denselben informativen Sog, den auch Vieths Buch auszeichnet. Für jeden, der sich für die verdrängte Geschichte der Stadt interessiert, sollten beide Bücher nicht zu teuer sein.tlb

Harald Vieth, „Hier lebten sie miteinander in Harvestehude-Rotherbaum“, 192 S., 29,80 Mark, zu beziehen über: H.Vieth, Hallerstraße 8, 20146 Hamburg, Tel: 040/45 21 09

Galerie Morgenland, „Wo Wurzeln waren...“, Juden in Eimsbüttel 1933 bis 1945, Dölling und Galitz Verlag, 270 S., 29.80 Mark

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Mordversuche im Wochenbett

„Es sollte mir nahe gehn, wenn sich meine Geschichte wie die gewöhnlichen Romane mit meiner Verheyrahtung enden, und Gott mich dieses Wochenbett zu sich nehmen sollte. (...) Doch vielleicht ist Gott mir gnädig und hilft mir, dieses Wochenbett zu über stehen, und dann ist es mein erstes Geschäfte, sie euch gantz zu liefern, sie ist nach meiner Verheyrahtung ebenso reichhaltig wie vorher.“ Dieses Wochenbett überlebte die Hamburger Bürgerstochter Margarethe Elisabeth Milow (1748-1794), nachdem sie sich just mit einem Prediger verheiratet hatte. Auch die folgenden zehn Schwangerschaften und Geburten überstand sie, bis sie 1794 schwerkrank starb. Ihre Erinnerungen aber hielt sie fest, um sie den Kindern als Anschauungsunterricht für das Leben zu überlassen.

Schon die Geschichte der Entdeckung der Lebenserinnungen der Margarethe Elisabeth Milow gleicht einem Krimi: Im Frühling 1986 fand die Historikerin Rita Bake auf der Suche nach Material für das Seminar „Nachlässe als Geschichtsquelle“ im Hamburger Staatsarchiv ein Schreibmaschinenmanuskript: „Margarethe Elisabeth Milow / Mein Leben / Ein Vermächtnis für meinen Mann und meine Kinder“. Die Lebenserinnerungen aus dem 18. Jahrhundert hatte ein Nachfahre der Milow, der sich mit Familienforschung befaßt hatte, 1909 abgeschrieben, und diese wiederum tippten nun Rita Bake und die Journalistin Birgit Kiupel ab und gaben es 1987 als Buch heraus. Eine sensationelle Entdeckung, kamen doch Frauenschicksale in der männlichen Sicht der Geschichtsschreibung nicht vor, und sind doch Dokumente und Zeugnisse über das Leben der Frauen im 18. Jahrhundert äußerst rar.

1990 meldete sich ein in Bremen lebender Nachfahre der Milow bei den beiden Frauenforscherinnen, die nun tatsächlich des handschriftlichen Originalmanuskripts ansichtig wurden, das alle Zweifel über die Authentizität des Textes wegwischte.

Nun liegt der ganze Text - bis auf den verschollenen zweiten Teil, der vermutlich unangenehme Familieninterna enthielt - samt einem Gefühls- und Sachlexikon vor, und verhilft Leserinnen und Lesern zu einer Zeitreise in das Hamburg des 18. Jahrhunderts. Anders als in heute meist von Ghostwritern konstruierten Autobiographien, fesseln die Aufzeichnungen der Milow durch Aufrichtigkeit und Wahrheit, seien es auch nur die nicht zu unterschätzenden sogenannten kleinen Wahrheiten, die Frauen seit Jahrtausenden befähigen, die Welt im Innersten zusammenzuhalten. jk

Margarethe Elisabeth Milow, Ich will aber nicht murren, Hrsg. von Rita Bake und Birgit Kiupel, Dölling und Galitz-Verlag 48 Mark

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Letzte Briefe aus dem KZ

Sie ist Bert Brechts Tochter, Grande Dame der Schauspielkunst, eine Kämpferin gegen Unterdrückung und Faschismus und eine - wie ihr Name sagt - Überbringerin von Unglücksbotschaften, die in einer dunklen Welt produziert werden. Eine ihrer Maximen stammt vom Vater: „Mögen andere von ihrer Schande sprechen - ich spreche von der meinen.“ Daß ihre Kraft in der Schauspielerei liegen würde, hatte Brecht bereits im Jahr 1923 (Tagebücher) kurz nach ihrer Geburt vorausgeahnt: „Übrigens hat sie die Unermüdlichkeit ... von ihrem Vater geerbt. Sie hat Augen, die sie zu einer großen Tragödin machen müssen, wenn sie nicht einfach nur Merkmale des Unglücks werden!“ Sie ist eine große Tragödin und Kämpferin gegen das Unglück geworden. Sie spricht von ihrer Schande, und weiß um ihre Grenzen, wenn sie sagt: „Das Schreiben kann der Brecht besser - ich das Lesen und Vortragen.“

Hanne Hiob, die stets für Widerstandskämpfer und Opfer des Faschismus eintrat, hat nun das Buch Wir Verreisen... In die Vernichtung - Briefe 1937-1944 vorgelegt. Geschrieben wurden diese Briefe von den Verfolgten und bedrohten Angehörigen Hedwig Mühlheims in Oberschlesien und Berlin, denen sie in diesen Jahren alle nur erdenkliche Hilfe zukommen ließ. Die Briefe geben einen Einblick in den Alltag der jüdischen Bevölkerung unter der Naziherrschaft, die schrittweise Einengung des Lebens, die Entbehrungen und Demütigungen, wie sie die Urgroßmutter des Mitherausgebers Gerd Koller erlebte. Über allem schwebt Auschwitz, und solange die Mörder leben auf der Welt, ein erschreckend aktuelles Buch - gerade jetzt zur weihnachtlichen Konsum-Heuchelei.

Gunnar F. Gerlach

“Wir Verreisen...“ Briefe 1937-1944, Hrsg. von H. Hiob, G. Koller, Konkret Literatur Verlag, 12 Mark

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Was ist ein Tüdelband?

Was is denn nun ein Tüdelband? Und wie wird es richtig geschrieben? Tüdelband? Tündelband? Trünnelband oder Tündelreifen? Die Definition des Hamburger Wörterbuches, daß nämlich ein Tüdelband ein Bindfaden ist, mit dem man etwas zusammentüdelt – und kriegt man ihn nicht wieder auseinander, ist er vertüdelt (oder auch vertütert) – ist Volksetymologie und ganz einfach falsch, belehrt uns das Liederbuch An de Eck steiht'n Jung mit'm Tüdelband. Ein Tüdelband ist nämlich ein Reifen, den früher die Jungs mit einem Stück Holz, zur Not auch mit dem Handteller, zum eignen Amusement und zum Schrecken der Fußgänger vor sich her getrieben haben.

Neben dieser wichtigen Begriffsklärung bietet das Liederbuch, das mit einem lexikalischen Begleitband erschienen ist, eine umfassende Sammlung Hamburger Lieder. Dem Herausgeber, Liederjan Jochen Wiegand ist es gelungen, Altbekanntes, teilweise verschollenes und auch das Liedgut seiner Szene (70er Jahre Eppendorf) zu editieren. Dabei beschränkt sich Wiegand nicht nur auf die altbekannten seemannsnostalgischen Werke a la “La Paloma“, nein, er hat in seiner Sammlung auch zeitgeschichtliche Lieder festgehalten, etwa Lieder aus dem Konzentrationslager Fuhlsbüttel oder aus der Schwarzmarktzeit – „oral history“ der etwas anderen Art sozusagen.

Die Stärken dieser Sammlung liegen aber eindeutig im zweiten, im Lexikonband, in dem es Wiegand gelingt, die Entstehungsgeschichten und Zusammenhänge der Volksweisen zu erläutern und nicht nur dem Quittje Begriffe erklärt, unter denen man sich heutzutage kaum noch etwas vorstellen mag. Was ist etwa eine Maibüx?

So'n bißchen nervig ist allerdings das ständige Nennen der Siebziger-Jahre-Szene, Rentnerband und so, und daß spätere klingende Hamburgensien, wie etwa Störtebeker, von der Punker-Band Slime ganz einfach außenvorgelassen wurden. kader

“An de Eck steiht'n Jung mit'n Tüdelband...“, Lieder und Lexikon, 2 Bde., Dölling und Galitz, 48 Mark

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Mainzelmann mit Hipster-Leber

Der Mensch in der Kneipe tritt heute als selbstbewußter, ironiebegabter König der Lockerheinis auf. Bars bedeuten ihm Anekdoten, Zapfhähne bezeichnen den Focus für seinen konzentrierten Blick und die Pistengänge geraten dem Les-und-hopp-Literaten schon mal zu einem “Kneipenführer Hamburg“: Hamburg zwischen Sekt und Selters. Es kommt heraus: Journalisten sind Wesen, die sich überall willkommen heißen. Um das Epizentrum von gewitterten „Themen“ zu beschreiben, läßt man ein paar geharnischte Bemerkungen über „Malzwhiskey“, „Quiche-Vorräte“ oder - höchste Inspirationsstufe! - „mein nächstes Bier“ fallen. Der „Kneipenführer“ baut auf der handlichen Unterstellung auf, daß in den meisten von uns entweder ein Szene-Typ steckt oder ein Trinker, oder mindestens der Mann, der filmreif die Bedienungen liebte.

Zu den Beiträgern der dicken Broschüre gehören Mitarbeiter der Stadtzeitschrift „Prinz“ und einige hamburgkennende Schriftsteller ohne thematische Berührungsängste. Sie wissen, daß, wer solche Service-Konvolute erstellt, nicht unbedingt das Recht, sondern Mehrheiten auf seine Seite ziehen möchte. Mehrheiten, so rechnen es sich die „Schreiber und Tester“ aus, schweigen nur so lange, wie sie keine Aufenthaltsorte im Gewand einer „Bar des Jahres“ (1993/94: Pat O'brians in St. Pauli) geboten bekommen. Das ist Hilfsbereitschaft: Wenn Kinder und Narren die Wahrheit nur flüchtig aufsagen, gehen andere hin und machen aus ähnlich handfestem Geplapper 180 stabil gebundene Seiten. Den Info-Mainzelmännern mit den Hipster-Lebern fehlt nur noch ein eigener Schlachtruf: Schreib das auf, Schluckspecht!

Kristof Schreuf

“Zwischen Sekt und Selters“, Kneipenführer Hamburg, Hrsg. Peter Lau und Lou A. Probsthayn, Ars Vivendi Verlag, 19,80

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