: "Wenn ick dat Felljucken kriege"
■ Gespräch in einem Nachtcaf zwischen zwei Obdachlosen, einem Ex-Beamten und einem ehemaligen Künstler
Künstler: Gegenwärtig bin ich wohl kein klassischer Obdachloser, weil's mir relativ gutgeht, ja körperlich, wie heißt das Fremdwort – ach ja: physisch. Aber so richtig kann man das auch nicht sagen, weil, das ändert sich ganz schnell, wenn ick dat Felljucken kriege.
Beamter: Darf ich präzisieren? Ein klassischer Obdachloser ist niemand, der sein Obdachlosendasein jederzeit beenden und in ein normales Arbeitsverhältnis überwechseln kann. Du dagegen kannst jederzeit in eine normale Arbeit zurückkehren und deinen Status aufgeben. Das steht in deinem ermessen. Aber der klassische Obdachlose kann strampeln, wie er will: Da ist irgendein Umstand oder eine Stelle, die es ihm praktisch unmöglich macht, sich wieder als Arbeits- und Wohnungsbesitzer zu etablieren. Das ist einer, der sich nicht scheut, in der Öffentlichkeit demonstrativ zu schlafen.
K.: Ja, in Bremen schlafen sie in der S-Bahn, aber hier muß das andere Gründe haben.
B.: Ich hab' hier in Berlin in der S-Bahn geschlafen. S-Bahn ist ja wohl Öffentlichkeit.
K.: Das ist aber immer orts-, zeit- und absolut nicht wettergebunden.
B.: Es bleibt doch aber nur Öffentlichkeit, wenn man keine Wohnung hat und schlafen will.
K.: Also auch mit den Notunterkünften hat det nix unbedingt zu tun, damit sind wir hier in Berlin, glaub' ich, noch am besten ausgestattet.
B.: Du meinst, wenn de hier im Nachtcafé schläfst, schläfste nicht in der Öffentlichkeit.
K.: Hier werd' ich anders registriert. Auch haben wir eben einen angeborenen Wandertrieb, als Sache an sich. Hier steigen wir ab.
B.: Und deine Wanderjahre sind noch nicht abgeschlossen, aber es steht in deinem Ermessen, sie jederzeit abzubrechen.
K.: Red mal nicht von dir oder mir, haben wir einen angeborenen Wandertrieb, ja oder nein?
B.: Es ist also etwas ganz Alltägliches, die Wanderjahre, oder etwas Spezielles für ganz bestimmte Leute, die dazu eine bestimmte Neigung oder Veranlagung haben.
K.: Na, wenn ich nicht mehr so gehen darf, dann gehe ich halt andersrum.
B.: Das muß ich dann wohl, auch jetzt zu dir. Du sagst, du hättest keine akuten Beschwerden, vielleicht nur chronische, aber keine akuten.
K.: Det is ooch wieder nur Training. Aber jetzt will ich akut Kaffee trinken. Oder noch anders: Obwohl ich nach der angebotenen Zigarette greif', bück' ich mich lieber und heb ein paar Kippen auf, weil sonst krieg' ich ja immer nur eine Zigarette. Und, weil wir grad in der Kirche sind, wenn jeder im weißen Hemd rumläuft, mit Sandalen und nach einer Stulle fragt, und es dann immer was zu essen gibt, dann sind alle irgendwann dick im weißen Hemd.
B.: Du meinst, das Leben bietet dir keine Chance mehr, und hier in der Obdachlosenszene ist die einzige Möglichkeit, noch etwas Überraschendes zu erleben.
K.: Abenteuerlust? Nee! Ick hatte noch nie eine.
B.: Ja, dazu bist du außerdem zu alt. Aber was ist es? Du portraitierst gerne bestimmte Szenen, versuchst also, Schnappschüsse zu machen, von dem Leben, das du führst oder das wir vor dir aufführen. Aber du zeigst die Schnappschüsse nicht vor.
K.: Du sagst mir Leben vorführen? Oder meinst du das, was jetzt passiert?
B.: Leben neben dir, was mir und dir passiert.
K.: Mir passiert ja im Augenblick nix.
B.: Ist das ein beklagenswerter Zustand?
K.: Oder werden wir passiert? Jederzeit kann's passieren, daß man von einem Auto angefahren wird, wenn man wandert.
B.: Es wäre für dich also nichts, in einem Beruf jeden Tag das Gleiche zu tun. Jetzt hast du die Aussicht, wenn nicht jeden Tag, so doch jede Woche etwas anderes zu machen.
K.: Ich bin in meiner gegenwärtigen körperlichen Verfassung noch in der Lage, jeden Tag 'nen Haufen Müll zu produzieren.
B.: Fühlst du dich gar nicht benachteiligt, wenn du rauchen willst und Kippen sammeln mußt, während andere ein Arbeitseinkommen haben und sich Zigaretten immer kaufen können?
K.: Auch nur 'ne Zeiterscheinung, bei uns schwankt alles nur viel mehr, was auch eine Zustandsfrage ist. Eine Weile vom Sozialamt die Taler abholen oder im Wohnheim schlafen oder so. Ich nehm' das im Moment nicht wahr.
B.: Wenn du das jetzt nicht wahrnimmst, versuchst du dich ja auch zu betäuben, genau wie wir. Mir wird schlecht von Alkohol und Nikotin, ich hab' aber doch den Drang, mich selbst zu betäuben. So schreibe ich, da brauch' ich an nichts anderes mehr zu denken. Ich denk' nur noch an das, was ich schreibe. Womit betäubst du dich, wenn du dich betäubst?
K.: Zur Zeit mit Reden.
B.: Du bist also dankbar für das jetzige Gespräch?
K.: Jetzt lüg' ich mal, ja?
B.: Aber das Gespräch verhindert, daß du dir unangenehme Sachen vergegenwärtigen mußt.
K.: Was ich mir vergegenwärtigen wollte, war ja gar nicht gefragt in der letzten Stunde.
B.: Manchmal willst du, und manchmal willst du nicht. Hängt das vom Wetter ab?
K.: Im Sommer war's kalt, und jetzt frier' ich nicht.
B.: Also mehr stimmungsabhängig?
K.: Man kann ja rein theoretisch nix versäumen im Leben. Jetzt dreh' ich einfach den Spieß mal um.
B.: Du hast dir noch nie vorgeworfen, im Leben etwas versäumt zu haben, noch nie Selbstvorwürfe gemacht? Oder hab' ich jetzt einen wunden Punkt getroffen?
K.: Nee, überhaupt nicht. Typische Künstlerfrage, irgend was zu versäumen.
B.: Man fragt doch so schön, was würden Sie tun, wenn Sie wieder zur Welt kommen würden. Meist kommt dann die Standardantwort, ich würde die gleichen Fehler wieder machen. Gibst du auch diese klassische Antwort?
K.: Ist wieder 'ne Situationsfrage.
B.: Ich hab' dich wegen deiner Selbstironie immer bewundert und möchte gern wissen, ob diese Selbstironie dein Schutz vor irgendwelchen tieferen Schichten ist, die du nicht ankratzen willst.
K.: Hmm.
B.: Du biegst eine Frage, die auf den Untergrund zielt, irgendwie ab, um der Frage etwas Lustiges abzugewinnen. Dann brauchst du über den Rest der Frage nicht mehr nachzudenken.
K.: Das Gleiche kann ich gar nicht wieder machen, noch mal anfangen und die gleichen Fehler. Sobald man geboren ist, kann man alles nur falsch machen.
B.: Du bist demnach kein behördlicher Notfall, sondern ein Teilnehmer aus Passion.
K.: Passionsteilnehmer.
B.: Aber eigentlich machst du doch gar nichts falsch. Du lavierst dich durch, und zwar mit dem geringsten Aufwand an Energie.
K.: Du hast es getroffen, ich bin dick geworden. Ist aber auch nur situationsbedingt. Ich schlaf' jetzt viel, und da esse ich für meinen relativen Energiehaushalt zuviel.
B.: Du hast ein sehr ausgleichendes Wesen. Hier gibt's ja nicht wenige, die leicht etwas übelnehmen. Hattest du noch keinen Streit?
K.: Doch, aber daran kann ich mich nicht erinnern. Die üblichen Streits, die muß man sich doch nicht merken.
B.: Was sind denn übliche Streitigkeiten?
K.: Wir streiten uns doch auch grad, aber nicht so schlimm, wir suchen nicht den, der Schuld hat.
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