: Hilfe für die Hilflosen
Der Flughafen-Sozialdienst nach dem „Asylkompromiß“ ■ Von Gudrun Petasch
Die grundgesetzliche Änderung des Asylrechtes zum 1. Juli 1993 sollte – so wollten uns die drei beteiligten Parteien glauben machen –, den materiellen Gehalt des Grundrechts auf Asyl unangetastet lassen. Sie sollte lediglich die Verfahren straffen und Personen vom deutschen Territorium fernhalten, die bereits vorher Schutz fanden oder hätten finden können. Die sogenannte „Drittlandregelung“ ermöglichte eine Einreise aus einem der allesamt als „sicher“ definierten Nachbarländer nicht mehr. So konzentrierte sich das Augenmerk auf die Flughäfen als einzig verbleibende Schlupflöcher. Diese nun auch noch weitgehend zu stopfen war das Ziel des neuen Paragraphen 18a des Asylverfahrensgesetzes: Wer unter das sogenannte 18a-Verfahren fällt, muß sein gesamtes Asylverfahren vor der Einreise abwickeln.
Eine Bilanz von vier Monaten mit dem neuen Gesetz muß sich daran messen lassen, ob die neue Regelung ihre Versprechen – Schutz von Verfolgten, Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens, Rechtsschutz, Verfahrensbeschleunigung – einlösen kann.
Der kirchliche Sozialdienst am Frankfurter Flughafen, eine freiwillige Einrichtung der beiden großen Kirchen, kümmert sich schon seit über 15 Jahren um die über Rhein-Main einreisenden Flüchtlinge. Schwerpunkte unserer Arbeit noch unter der alten Rechtslage waren die Grundversorgung, die psychosoziale Betreuung und vor allem die Verfahrensberatung. Sie klärte die Flüchtlinge auf, welche Rechte und Pflichten sie haben. Die Flüchtlinge werden auf die Erstanhörung durch den Bundesgrenzschutz vorbereitet.
Das neue Asylrecht zum 1. Juli 93 hat alle unsere bisherigen Routinen im Flüchtlingsbereich in Frage gestellt und die Schwerpunkte unserer Arbeit verschoben. Die ursprünglich einheitliche Rechtslage hat nun einem Viergruppenmodell Platz gemacht:
– Wer vor seiner Landung in Frankfurt bereits in einem Flughafen eines sogenannten „sicheren Drittstaates“ war, wird bei den nahezu 100prozentigen Vorkontrollen des BGS direkt wieder zurückgeschickt. Diese Gruppe – nach den Zahlen von 1992 immerhin etwa 20 Prozent unserer Klientel – kommt mit uns nicht mehr in Berührung. Obwohl diese Flüchtlinge noch das Recht hätten, ein Gericht anzurufen, können sie es nicht nutzen. (In einigen wenigen Fällen hatten wir auf abenteuerlichem Wege Zugang zu den Betroffenen; hier hat das BVerfG im Eilverfahren entschieden, daß der Zugang zum 18a-Verfahren gewährt werden muß!)
– Wer zu der Minderheit gehört, die mit gültigem Paß reisen kann, wird nur noch grenzpolizeilich befragt und wie früher gleich anschließend weitergeleitet. Diese Personen werden immer direkt nach der Ankunft der grenzpolizeilichen Anhörung unterzogen. Erschöpft, desorientiert, wie sie sind, können sie ihre Rechte nicht nutzen, halten mit wichtigen Informationen hinterm Berg oder verheddern sich in widersprüchlichen Details. Das BGS-Anhörungsprotokoll wird als Bestandteil ihrer Akte später zum Material für Widersprüche, Ungenauigkeiten und damit zur Ablehnung beitragen.
Die beiden verbleibenden Gruppen sind als Betroffene des 18a-Verfahrens die neue Schwerpunkt-Klientel unserer Flüchtlingsarbeit:
– Wer aus einem „sicheren Herkunftsland“ kommt, unterliegt zunächst der Nichtverfolgungsvermutung, kann dies jedoch in der Anhörung beim Bundesamt am Flughafen prinzipiell entkräften. Von diesen per Gesetz definierten Ländern spielt seit dem 1. Juli nur Ghana eine Rolle.
– Wer aus einem nicht sicheren Herkunftsland kommt und sich nicht mit gültigem Paß ausweisen kann, unterliegt ebenfalls dem 18a-Verfahren. Somit wird ein Kriterium, das vor Gericht eher als Indiz für Verfolgung dient, bei der Einreise zur Bestrafung.
Beide Gruppen werden „unverzüglich“ vom Bundesamt am Flughafen angehört. Hier wiederholt sich noch dramatischer das Problem, daß der Flüchtling unvorbereitet in die Befragung geht. Seine mangelnde Konzentration erzeugt Verwirrendes. „Sag nicht, daß du Kommunist bist“, hörte ein junger Mann aus Afghanistan von seinem Fluchthelfer, „die Deutschen sind Antikommunisten.“ Er hielt sich an den „guten Rat“, verschwieg sein genuin politisches Fluchtmotiv – und wurde abgelehnt.
Der Abschreckungseffekt des neuen Gesetzes führte dazu, daß viel weniger Flüchtlinge kommen (Juli bis Oktober 1993: 664 Personen, d.h. 28,5 Prozent des Vergleichszeitraums 1992).
Wenn das Bundesamt für Flüchtlinge (BAFl) nicht innerhalb von zwei Tagen entscheidet, reist der Flüchtling ein; entscheidet es negativ, hat der Flüchtling drei Tage Zeit, einen Anwalt seiner Wahl zu beauftragen, der innerhalb derselben Frist einen Eilantrag beim Verwaltungsgericht Frankfurt einreichen muß. Eine Fristversäumnis führt zur Zurückweisung des Betroffenen.
Kein Anwalt könnte die extrem kurze Dreitagefrist wahren, wenn wir ihm nicht die wesentlichen Teile der Akte vorab per Fax übermitteln würden. Somit sind Kopierer und Fax zum Herzstück unserer Flüchtlingsarbeit geworden. Statt Vorabberatung machen wir seither schwerpunktmäßig Verfahrensbetreuung: Aktenführung, Mitüberwachung von Fristen, Halten des Kontakts zwischen Flüchtling und Anwalt, Übersetzen der offiziellen Flüchtlingspost, Erstellen von Protokollen ...
Im vertrauten Gespräch mit dem muttersprachlichen Betreuer unserer Organisation überwindet der Flüchtling meist erst nach Tagen sein Mißtrauen und gibt Informationen preis, die sofort dem Anwalt übermittelt werden müssen, damit sie im Eilverfahren noch Berücksichtigung finden können.
Ist es nun mit unserer Hilfe dem Rechtsanwalt gelungen, die Dreitagefrist zu wahren, so eröffnet sich eine weitere Frist von zwei Wochen, innerhalb derer das Gericht entscheiden soll. Zwei Wochen des Wartens, der Unsicherheit. Psychische Krisen sind mittlerweile an der Tagesordnung.
In einigen Fällen entscheidet sich der Rechtsbeistand, die negative Entscheidung des Verfassungsgerichts in Karlsruhe anzufechten, aber da das Bundesverfassungsgericht keine reguläre Revisionsinstanz ist, ist die Nutzung dieser Instanz ein Wettlauf mit dem Flugplan: Wenn die Verfassungsbeschwerde von Karlsruhe aus noch nicht beim BGS angezeigt ist, erfolgt die Zurückweisung mit dem nächsten Flugzeug auf der Herkunftsroute. Manche abgelehnten Asylbewerber kann der BGS mangels Papieren nicht zurückschicken; einige Inder sind deshalb bereits seit Wochen in Abschiebehaft.
Hat nun das neue Gesetz die Versprechungen seiner Befürworter gehalten? Gerade diejenigen, die am meisten unter Schock stehen, die bisher nur mit Mißtrauen, Lüge und Schweigen überleben konnten, fallen der Logik der unvorbereiteten Anhörung am ehesten zum Opfer. Im Falle eines klassischen politisch Verfolgten aus der Türkei, dessen Fall nach Aussagen des Anwalts zu einer regelrechten „Materialschlacht“ vor Gericht ausartete, waren zwei VG- Verhandlungen und zwei Verfassungsbeschwerden nötig, wochenlange Arbeit vieler Menschen innerhalb und außerhalb des Flughafen-Sozialdienstes, um ihm einen Verfahrenszugang im Inland zu ermöglichen.
Zwei Iraner hat das Bundesamt spontan am Flughafen als asylberechtigt anerkannt; sie hatten – völlig atypisch – die beglaubigten Beweise ihrer Verfolgung dabei. Allerdings hat die inzwischen mit unserer Hilfe etablierte Rechtskultur am Flughafen mit dazu geführt, daß das Bundesamt mittlerweile insgesamt 42,8 Prozent aller 18a- Antragsteller ohne Entscheidung einreisen läßt. Insgesamt sind nach unserer Statistik von 1.7. bis 31.10. 1993 82,7 Prozent aller Antragsteller eingereist. Die ursprüngliche Vorstellung der Gesetzesbefürworter, die meisten Ankömmlinge würden die BRD nach kurzem Aufenthalt im Transit wieder verlassen, hat sich nicht bewahrheitet.
Spätestens gegen Ende dieser Legislaturperiode will das Bundesverfassungsgericht seine Grundsatzentscheidung zum Flughafenverfahren und zur Drittstaatenregelung treffen; bisher hat es immerhin in 10 von 25 Fällen eine positive Einzelfallentscheidung getroffen.
Wenn in den nächsten Wochen das Land die neue 18a-Einrichtung mit siebzig Betten in Mehrbettzimmern in Betrieb nimmt, wird es sich entscheiden, ob der Flughafen-Sozialdienst weiterhin den hilflosesten seiner Klienten Betreuung und vor allem Rechtsschutz zukommen lassen kann. Die Hilfe für die Hilflosen, als Feigenblattfunktion eines ungerechten Gesetzes, erfordert täglich einen neuen Balanceakt.
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