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Rechtsextremisten tauchen in die Illegalität ab

■ Die Aktivitäten der rechtsextremen Szene werden nicht nur klandestiner, Neonazis vernetzen sich auch zunehmend professioneller und im internationalen Maßstab

Am Jahresende 1993, genaue Statistiken liegen noch nicht vor, wird das Bundeskriminalamt (BKA) wohl wieder weit über 5.000 Straftaten mit vermuteter fremdenfeindlicher Motivation auflisten. Allein im Juni, also kurz nach dem Brandanschlag in Solingen, der fünf Menschen das Leben kostete, wurden dem BKA 1.307 solcher Taten gemeldet. Zu den 17 Todesopfern, die 1992 auf das Konto von rassistischen Gewalttätern gingen, werden 1993 mindestens acht weitere dazukommen.

Nach der internationalen Empörung, die der Brandanschlag von Mölln 1992 ausgelöst hatte, dokumentierte der damalige Innenminister Rudolf Seiters Handlungsbereitschaft. Er verbot zunächst die „Nationalistische Front“ (NF) und dann mit der „Deutschen Alternative“ (DA) und der „Nationalen Offensive“ zwei Gruppierungen der neonazistischen Kaderorganisation „Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front“ (GdNF). Mit dem Verbot des „Deutschen Kameradschaftsbundes“, des „Freundeskreis Freiheit für Deutschland“, des „Nationalen Blocks“ und der „Heimattreuen Vereinigung Deutschlands“ zogen die Länderinnenminister von Nordrhein-Westfalen, Bayern, Niedersachsen und Baden-Württemberg nach. Der Hamburger Senat hat inzwischen beim Bundesverfassungsgericht den Antrag gestellt, die „Nationale Liste“ um Christian Worch, den vermutlichen Drahtzieher der neonazistischen Szene, als Partei zu verbieten. Bundesinnenminister Kanther entschloß sich nach langem Zögern, einen Verbotsantrag für die „Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei“ (FAP) zu stellen.

Wirkung zeigten die Verbote jedoch kaum. Nahezu alle betroffenen Organisationen waren vorab informiert, konnten Material beiseite schaffen und ihre Konten abräumen. Vielfach entstanden Auffangorganisationen wie die „Deutschen Nationalisten“, gegründet von DA-Aktivisten, oder das „Förderwerk Mitteldeutsche Jugend“, gegründet von NF-Funktionären. Die Strukturen der GdNF blieben unberührt.

Briefbomben schreckten die Öffentlichkeit auf

Angesichts verstärkter staatlicher Repression rückte die Szene noch näher zusammen. DA-Chef Frank Hübner kandidierte für die „Deutsche Liga für Volk und Heimat“ bei den Oberbürgermeisterwahlen in Cottbus Anfang Dezember und erzielte immerhin 2,7 Prozent. Die NPD-Jugendorganisation, die „Jungen Nationaldemokraten“ (JN), arbeitet auf regionaler Ebene ungeniert mit NF-Aktivisten zusammen. DVU-Chef Gerhard Frey trommelt für eine vereinte Rechte, „Republikaner“- Chef Schönhuber läßt zwar keine Gelegenheit aus, sich immer wieder öffentlichkeitswirksam fest auf den Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu stellen, doch das neue Parteiprogramm spricht eine andere Sprache. Und die Basis der Reps schlägt öfter über die Stränge, als dem Chef lieb ist.

Die Aktivitäten der Rechtsextremisten werden klandestiner, warnt Hamburgs Verfassungsschutz-Chef Ernst Uhrlau. Großteile der neonazistischen Szene betrachten die „legale Schiene für gescheitert“. Außerdem vernetzt sich die Szene zusehends über moderne Kommunikationsmittel. Über Mailboxen werden Nachrichten ausgetauscht, PC-Journale liefern Anleitungen zum Basteln von Brandbomben, und „Nationale Infotelefone“ in Mainz, Wiesbaden, Hamburg und im Sauerland verbreiten nicht nur Aufrufe zu Demonstrationen und Gewalttaten, sondern treiben die Strategiediskussion innerhalb der Szene voran.

Die „Kameraden“ sollten sich in den kommenden Jahren weniger auf den Aufbau irgendwelcher Gruppen oder Parteien konzentrieren, sondern „in autonomen Gruppen im ganzen Land aktive politische Arbeit leisten und die Kontakte intensivieren“, meinen die Aktivisten des Wiesbadener „Infotelefons“ in einem Interview mit dem Skinzine Frontal im Februar dieses Jahres. Die JN- und NF-nahe Postille Saufeder plädiert für eine Zusammenarbeit mit nationalistischen Ausländergruppen. Die „multikulturelle Gleichmacherei“ könne „schließlich auch nicht in ihrem Interesse liegen“.

Das inzwischen in Moderne Zeiten umbenannte Skinzine Frontal fordert, zukünftig noch mehr „Gegenkultur zu wagen“. Manfred Rouhs, Herausgeber von Europa vorn, will den Rechtsrock gezielt einsetzen, um „Menschenmassen wenigstens oberflächlich im patriotischen Sinne zu politisieren“. Ist das geschafft, sei das der Moment, „in dem wir zuschlagen, Inhalte und Kontakte bieten müssen“.

Entgegen vorheriger Lageberichte gibt das BKA inzwischen „Grundzüge einer Vernetzung der rechtsextremen Szene“ zu und zeigt sich angesichts der internationalen Zusammenarbeit der Neonazis alarmiert. In Deutschland verbreitete rechtsextreme Publikationen werden mittlerweile in den Niederlanden, in Spanien, Dänemark, Litauen, Polen, der Ukraine und in den USA gedruckt, deutsche Neonazis reisen nach Kanada, Rußland und Nordeuropa, um neue Kontakte zu knüpfen.

Ein Moment der zunehmenden Vernetzung der Szene bilden gemeinsame „Anti-Antifa-Aktivitäten“. Nahezu alle einschlägig bekannten Gruppen rufen auf, Daten über „Inländerfeinde“ zu sammeln. Ins Visier der Neonazis geraten damit Lehrer, Sozialarbeiter, Staatsanwälte, Journalisten, Politiker und aktive Antifaschisten, alle diejenigen, die mit und für Minderheiten arbeiten. Erst als Anfang Dezember mit der Broschüre „Der Einblick“ eine bundesweite Abschußliste von den Neonazis veröffentlicht wurde und eine Briefbombenserie in Österreich die Öffentlichkeit aufschreckte, reagierten die Behörden. Bernd Siegler

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