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"Genossen und Kameraden!"

■ Vor 75 Jahren setzte der Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte in Berlin der kurzen Zweistaatlichkeit - Rätesystem oder parlamentarische Demokratie - ein schnelles Ende

Nachdem am 9. November 1918 in Berlin gleich zwei Republiken ausgerufen worden waren, nämlich die „freie deutsche Republik“ durch den Sozialdemokraten Philipp Scheidemann und die „freie sozialistische Republik“ durch den Spartakisten Karl Liebknecht, existierten in vielen Teilen Deutschlands wochenlang tatsächlich zwei Machtgruppierungen, die um die Führung in die demokratische Zukunft des Landes kämpften. Örtliche Arbeiter- und Soldatenräte standen oft dem alten kaiserlichen Behördenapparat, jetzt unter neuer Führung meist von SPD- Mitgliedern, gegenüber.

Der erste und auch gleich letzte Allgemeine Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands vom 16. bis 21. Dezember 1918 im Preußischen Landtag setzte dieser besonderen deutschen Zweistaatlichkeit ein Ende.

Der Kongreß war eine reine Männergesellschaft

Aus ganz Deutschland waren die Vertreter gekommen. Auf je 200.000 EinwohnerInnen kam ein Delegierter, hinzu kamen die Vertreter der Soldaten: auf je 100.000 ein Gewählter. Der Kongreß war praktisch eine Männergesellschaft. Unter 490 Delegierten waren bloß zwei Frauen, Käthe Leu aus Danzig und Klara Noack aus Dresden.

Den Antrag, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht als Gäste mit beratender Stimme zuzulassen, lehnte die große Mehrheit der Delegierten ab. Mit großer Mehrheit wurde allerdings ein Antrag angenommen, der die Regierung beauftragte, mit der Sozialisierung aller hierzu reifer Industrien, insbesondere des Bergbaus, unverzüglich zu beginnen. Ebenso erhielt eine überwältigende Mehrheit der Beschluß, die sogenannten sieben Hamburger Punkte zu übernehmen. Danach sollten das stehende Heer abgeschafft und ein Volksheer aufgebaut werden. Die Rangabzeichen sollten abgeschafft und die Militärkontrolle durch die Volksbeauftragten ausgeübt werden, die ihrerseits durch den Vollzugsrat kontrolliert werden sollten. Die entscheidende Weichenstellung vollzog sich am 19. Dezember. Der Rätekongreß beschloß mit seiner sozialdemokratischen Mehrheit, am 19. Januar 1919 Wahlen zu einer Nationalversammlung abzuhalten. Kurz zuvor hatte ein Antrag des Mitglieds des Berliner Vollzugsrats, Ernst Däumig, zur unbedingten Erhaltung des Rätesystems keine Mehrheit gefunden. Der Antrag wurde mit 344 Nein- bei 98 Jastimmen abgelehnt. Ernst Däumigs Rede für das Rätesystem blieb ohne Erfolg. Der „politische Selbstmörderclub“, wie Däumig ihn nannte, beschloß seine Selbstentmachtung. Däumigs Worte sind spannende Zeitdokumente deutscher Geschichte. Mit seinen Prognosen zum Wiedererstarken der alten antidemokratischen Kräfte lag Däumig – leider – richtig. Hier ein Auszug aus seiner Rede, die er am 16.12. vor dem Kongreß hielt:

„Genossen und Kameraden, Sie haben vorhin, als Genosse Cohen so warm für die Nationalversammlung plädierte und sogar für einen frühen Termin eintrat, zum Teil lebhaft applaudiert; Sie haben aber zweifellos damit Ihr eigenes Todesurteil gesprochen. (Sehr richtig! und Widerspruch) Denn die Konzessionen, die vom Genossen Cohen und anderen Leuten gemacht werden, daß ja, wenn die Nationalversammlung komme, das Rätesystem noch weiterbestehen könne, sind ja doch nur Schall und Rauch. (Sehr richtig!) Was soll denn dieses Rätesystem neben einem sich so breitspurig einnistenden parlamentarisch-demokratisch-bürgerlichen System, wie es die Nationalversammlung einmal im Gefolge hat! Eine leere Staffage, eine Marionette!

„Man muß das eine oder das andere wollen“

Im Wirtschaftsleben werden mit Hilfe der Nationalversammlung und des Bürgertums die Gewerkschaften alten Stils natürlich die Arbeiterräte aus den Betrieben ganz schnell herausgedrängt haben. (Zuruf) – Das machen sie schon heute und haben es schon gemacht. Ach nein, dieses beides läßt sich eben nicht miteinander vereinigen; man muß das eine oder das andere wollen. Aber das sage ich Ihnen: All Ihre Illusionen auf ein neues, freies, auch kulturelles und geistig freies Deutschland, auf ein deutsches Volk, das diesen alten Untertanengeist von sich geworfen hat, der ja heute noch knüppeltief drinsitzt im deutschen Volk, auf ein Deutschland, in dem das Volk auch wirklich aktiven Anteil an seinen Geschicken nimmt und nicht alle 2, 3 Jahre mit dem Stimmzettel in der Hand zur Wahlurne läuft, erreichen Sie nicht mit diesem alten System.“

Das war ein Auszug aus den stenographischen Berichten des Kongresses, herausgegeben vom „Zentralrat der sozialistischen Republik, Deutschland, Berlin, Herrenhaus“, gedruckt im Admiralstab der Marine, Berlin W. Jürgen Karwelat

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