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Überleben in den Kellern

In Mostar ging der Krieg auch über Weihnachten weiter / Die Menschen im muslimischen Teil lassen sich den Lebensmut nicht nehmen  ■ Aus Ost-Mostar Erich Rathfelder

Die Stufen zum Keller des Wohnblocks sind feucht und naß. Seit Tagen hat der Regen die Straßen Ost-Mostars überflutet. Dunkel ist es in der abgestandenen Luft, nur die Taschenlampen spenden dürftig Licht. Ein Gang führt weiter und öffnet sich linker Hand schließlich zu einem Raum. Einige Gestalten sitzen um einen Tisch herum. Die einzige Kerze, die auf dem Tisch steht, gibt beim Näherkommen die Gesichter von zwei Frauen und fünf Kindern preis, die hier in diesem Keller leben.

Es handelt sich um „Kellermenschen“, von denen es jetzt in Bosnien so viele gibt. Nachdem die kroatischen Truppen der HVO am 9. Mai die völlige Kontrolle über die Stadt übernehmen wollten und damit den Krieg in Mostar provozierten, mußten viele Frauen und Kinder in diesem, dem sogenannten „muslimischen“, Stadtteil links des Neretva-Flusses in die dunklen Keller der großen Wohnblocks flüchten. Denn die Artillerieangriffe von den Hügeln oberhalb des „kroatischen“ Teils der Stadt auf der rechten Seite des Flusses haben seitdem nicht aufgehört.

„Wir leben hier, weil unsere Wohnung Anfang Juni von einer Granate zerstört worden ist“, sagt leise eine der Frauen, eine dreißigjährige Friseuse, „meine Mutter kam dabei um.“ Fatima H., die zweite Frau in der Runde, lebte früher auf der anderen Seite der Neretva. „Anfang September war es, da kamen die HVO-Soldaten an unsere Wohnungstür und forderten mich und die drei Kinder auf, sofort die Wohnung zu verlassen. Sie trieben uns aus dem Haus, führten uns an die Frontlinie, wo schon andere Familien versammelt waren, und zwangen uns, auf diese Seite hin zu fliehen.“

Die Glut in dem aus einem Eisenrohr gebastelten Ofen ist zusammengefallen. Klamme Kälte zieht in den Raum. Der Qualm eines nachgelegten Holzstücks dringt durch die Ritzen des Ofenrohrs, das durch eines der Fenster nach draußen führt. „Holz haben wir hier immerhin, das sind meist die Balken der zerstörten Häuser, aber das Essen ist doch sehr knapp geworden“, sagt Fatima. „Seit zwei Tagen gibt es nicht einmal mehr Mehl. Wir haben noch ein halbes Pfund Reis für uns alle hier. Und Wasser müssen wir nachts von einem Tankwagen holen. Was das Schlimmste ist, die Kinder können nicht zur Schule gehen.“

Ein paar Schritte weiter schon kommt das nächste Kellerzimmer, insgesamt sind es zehn. Die Geschichte eines jeden dieser Menschen ist voller grausamer Erfahrungen. Und doch scheint an diesem ersten Weihnachtsfeiertag die Trauer nicht gepaart mit Haß, mehr mit der Erinnerung an das weit entfernte, friedlich-glückliche Leben vor dem Krieg. Tiefe Erschütterung löst allerdings die Erzählung einer älteren Dame aus, die Anfang Oktober mit vielen anderen „Evakuierten“ zusammen in einem von drei Lastwagen von der „anderen Seite“ hierher transportiert worden war. Als in die Wagen niemand mehr hereinpaßte, habe ein HVO-Soldat einfach in die dicht an dicht stehenden Menschen geschossen. Mehr als zehn Menschen wären sofort tot gewesen, viele andere verletzt. So wäre auf den Lastwagen Platz für die noch wartenden Personen geschaffen worden.

„Wir lassen uns den Lebensmut nicht nehmen, nicht einmal nach all dem, was mit der alten Brücke geschehen ist.“ Tajma, eine junge Studentin, möchte die andere Seite ihres Lebens deutlich machen. Und sie bietet dem Besucher ihre Begleitung an. „Wir haben ein Radio gegründet, wir spielen Theater und organisieren Dichterlesungen, heute werden die ersten Exemplare einer Zeitung gedruckt.“ Doch zuerst wollen wir dorthin gehen, wo einst die berühmte alte Brücke stand.

Auf dem Hof des Häuserblocks sind im fahlen Nachmittagslicht die Wunden deutlich zu sehen, die der Krieg geschlagen hat. Die Fronten der Häuser, die auf der anderen Seite des Flusses zu sehen sind, bilden ein einziges Bild der Zerstörung: ausgebrannte Fensterhöhlen, über ein Meter breite Einschlaglöcher der Granaten. Doch auf der abgewandten Seite der Häuser wohnen immer noch die alten Mieter.

In Ost-Mostar, so wird später Jerry Hulme vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR erklären, sind 95 Prozent der Häuser zerstört. „Der letzte große Angriff fand Heiligabend statt, Hunderte von Grananten wurden abgeschossen, und dies am Tag des Friedens“, bemerkt Tajma lapidar, „trotz Waffenstillstands zu Weihnachten.“

Der Weg, der zur alten Brücke führt, ist nicht ganz ungefährlich. Angesichts der kroatischen Scharfschützen sind manche Strecken nur im Laufschritt zu bewältigen. Doch vom Keller einer Ruine aus läßt sich ein Blick auf die Felsen am Ufer der Neretva erhaschen. Die Stümpfe des Brückenbogens ragen wie abgebrochene Knochen über das reißende Wasser des türkisfarbenen Flusses. Als die Nachricht von der Zerstörung der alten Brücke, dem Symbol des Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen, die Runde machte, hätten sich die Menschen nur an der Hand genommen, geschwiegen und geweint, erzählt Tajma. Und ein bosnischer Soldat, der hier, wie auch damals, Wache schob, fügt hinzu, die kroatischen Panzer und Kanonen hätten zwei Tage lang gezielt auf die Brücke geschossen, bis ihre marmornen Steine in den Fluten versunken waren.

Schon tauchen Mythen auf: Die Brücke, so der junge Mann, sei mit der Zahl 9 verbunden: „Sie hatte 99 Stufen, Allah hat 99 Namen, am 9. Mai begann die Aggression, und am 9. November wurde sie zerstört. Sie wurde von Hajrudin vor 427 Jahren erbaut, der letzte, der sie überquerte, hieß Hajrudin.“

Der Blick schweift hinüber zu der Altstadt, die ebenfalls jenseits des Flusses gelegen ist, wo jetzt noch sechstausend Menschen, Muslime, leben. Nach der Zerstörung der Brücke von dieser Seite fast völlig abgeschnitten, sind sie sogar noch schlimmer dran als die rund fünfzigtausend, die im Ostteil der Stadt ihr Leben fristen. „Nur in der Nacht können wir ihnen etwas zukommen lassen. Bisher widerstehen sie trotzdem allen Angriffen.“

Der Eingang zur Radiostation ist nicht beschädigt. Lange Balken sind an die Hauswand gelehnt und schützen ihn. In den Räumen herrscht reges Leben. Tajma stellt die Mitglieder der Redaktion vor, allesamt junge Leute, die voller Enthusiasmus auf den Schreibmaschinen hämmern. „Wenn um 17 Uhr Strom angeschaltet wird, dann arbeiten wir an den Computern.“ Ein Dieselaggregat erzeugt die Elektrizität, die nötig ist, um die Sendungen auszustrahlen. „Unsere Frequenz wird durch die kroatische HVO gestört, die Leute im anderen Teil der Stadt sollen uns nicht hören“, erklärt die siebzehnjährige Aida, die hier als Nachrichtensprecherin fungiert. Rockmusik, Besinnliches, zwei große Nachrichtenblöcke um 19 Uhr und um 21 Uhr bilden das Programm.

Es ist schon dunkel geworden. Wir werden eingeladen, einem wichtigen Augenblick beizuwohnen: in der nahe gelegenen Druckerei wird die erste Ausgabe der Zeitung Ogledalo (Der Spiegel) gedruckt. Ein Arbeiter müht sich mit einer alten Maschine ab, die in der Lage ist, Din-A4-Blätter zu bedrucken. Die Qualität des Drucks ist erstaunlich gut, die alte Brücke prangt auf dem Titelblatt des zwölf Seiten umfassenden Journals, das in der ersten Ausgabe mit hundert Exemplaren die Runde unter der Bevölkerung machen wird. „Mehr Papier haben wir nicht.“ Doch eine Kollegin läßt es sich nicht nehmen, dem Gast ein Notizbuch zu schenken, das früher, vor dem Krieg, hier produziert worden ist.

Endlich kommt die Erlaubnis des Kommandanten Sulejman Budaković, das Gefängnis der Stadt besuchen zu dürfen, wo siebzig kroatische Kriegsgefangene seit Anfang Juli festgehalten werden. Mürrisch öffnen die Wachen die Tür. Das Gebäude ist in einem schlechten Zustand, doch noch intakt, „wenngleich es durch das Dach nun regnet und einige Zellen nicht zu belegen sind“, erklärt der Kommandant Mirzet Vrazalica, ein drahtiger Offizier.

Die Tür zur Zelle öffnet sich, acht überraschte Gestalten erheben sich von ihren Bettgestellen rund um den warmen Ofen, denn bisher war es nur Vertretern des Roten Kreuzes und einem Team des britischen Fernsehens BBC erlaubt, das Gefängnis zu betreten. Auch zwei Frauen sind darunter. Wie die Männer seien auch sie als Soldatinnen der HVO Ende Juni bei der Aktion um Bijelo Polje festgenommen worden, erklären sie. Damals gelang es der Bosnischen Armee durch die Mithilfe von dreihundert Überläufern, eine Kaserne der HVO in ihre Gewalt zu bringen und damit einen Weg ins Landesinnere nach Jablanica zu öffnen. Dieser „Verrat der Muslime“ war der Anlaß für die kroatische Seite, in den Regionen Mostar und Čapljina alle – um die zehntausend muslimische Männer zwischen achtzehn und sechzig Jahren – zu verhaften und in den Lagern Dretelj, Gabela und Rodoc zu internieren.

Seither beschuldigen sich beide Seiten, Kriegsverbrechen an den Gefangenen zu begehen. „Wir wurden weder sexuell belästigt noch schlecht behandelt“, erklärt eine der beiden Frauen, als die Wachen sich auf Wunsch zurückgezogen haben. Das Essen sei das gleiche, das die Armee bekomme. Sie seien hier mit den männlichen Gefangenen in einem Raum gesperrt, weil das Wasser durch die Decke der alten Zelle tropfte. Auch in dem Raum, in dem die restlichen 62 Gefangenen festgehalten werden, wird bestätigt, daß es zu keinen Übergriffen gekommen sei. Die Dunkelheit im Keller jedoch sei ein Problem, immerhin würden sie oft zu Aufräumarbeiten draußen eingesetzt. In der Tat scheint der Zustand der Gefangenen nicht schlecht, unvergleichbar besser als jene Gestalten, die KZ-Häftlingen gleich, kürzlich aus dem Lager Dretelj entlassen wurden.

„Ich mag nicht, daß Menschen im Gefängnis sind“, sagt Aida, die zum Aufbruch drängt. Denn eine Dichterlesung soll bald beginnen. Wieder rennen wir über die Straßenkreuzungen, denn der voller werdende Mond gibt den Scharfschützen die Ziele an. In dem qualmigen Gemeinderaum einer Moschee warten bereits hundert Menschen, die sich unter den Bildern einer Ausstellung örtlicher Maler drängen. Es gibt nur ein Motiv auf diesen Bildern, es ist die Brücke von Mostar, die unbeschädigte, die angeschlagene, das klaffende Loch. Und als die Lesung beginnt, umrahmt von einem Sänger, der seine traurigen, für dieses Ereignis eigens komponierten Lieder selbst an der Gitarre begleitet, ist es still im Raum. Das fahle Licht der Glut, die auf einem Bleche liegt, erhellt die Gesichter der Rezitierenden. Es ist ein würdiger Augenblick voller Trauer und Überlebenswillen.

Eine Ausgangssperre gibt es in Ost-Mostar nicht. Viele Menschen drängen sich in der Nacht dieses Weihnachtsfeiertags um die Wagen, die Trinkwasser herangeschafft haben. Die Kanister werden gefüllt und in die Keller geschafft. Dort beißt der Rauch in den Augen. Die Ankunft von sechs Ärzten aus Sarajevo, die achtzig Stunden Fußmarsch hinter sich haben, unterbricht die Nachtruhe. Für sie wird schnell ein Platz gefunden. Und die Menschen schlafen dem nächsten, ungewissen Tag entgegen.

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