: Unterm Strich
Vor jahresrückblickhaften Gedanken ist auch unser heutiger Kurzmelder nicht gefeit: Am liebsten hat er dieses Jahr die LP „New Wave“ (ein sehr verfänglicher Titel, eigentlich) der englischen Post-Mod-Popband The Auteurs gehört, weil sie so toll nach jenem schlapp swingenden London der Sixties geklungen hat, daß man sich beim Hören fast an der Carnaby Street in einem Pub sitzend, ausnahmsweise einmal gutgelaunt dem Leben zuprostend zwischen lauter Jugendtouristik-Reisegruppen aus Detmold oder Schweden wähnen konnte; im Kino hat er die größten Augen in „Lebewohl meine Konkubine“ ob der Freuden und Leiden eines geschlechtsverwirrten Peking- Oper-Darstellers unter der Regie von Chen Kaige bekommen (überhaupt Verwirrungen: War nicht auch Schwarzeneggers baudrillardsches Neben-der-Rolle- Sein in „Last Action Hero“ eines Kafka-Preises würdig?); und zwischen lauter superlativistischen Moderne-Ausstellungen (monolithisch im Fall Pablo Picassos oder kulturimperialistisch – so hätte das früher wohl geheißen – bei den malenden Amerikanern des 20. Jahrhunderts) war ihm die bescheiden grau in grau gehaltene Retrospektive zur Arbeit von Eva Hesse im Pariser Museum Jeu de Paume das Herzstück im diesjährigen Kunsterinnerungsbetrieb. Als Lesebuch für U-Bahn und Nachttisch ist ihm die unendliche Vielfältigkeit der „Tausend Plateaus“ von Guattari/Deleuze wie eine Ente der tausend Kostbarkeiten vorgekommen (wenn das die Donaldisten wüßten). Irgendetwas mußte allerdings verlorengehen: Leider kann er sich nicht erinnern, außer zur Schließung des Schiller- Theaters mit der Schauspielerei in Berührung gekommen zu sein, da hält er es dann eher mit Anthony Hopkins. Ansonsten werden ihm im nächsten Jahr neben Audrey Hepburn, Eddie Constantine, Alfred Edel und vielen anderen besonders der 29 Jahre jung gestorbene französische Konzeptkünstler Absalon, Wolfgang Max Faust undFrank Zappa fehlen, während er um Michael Jackson jetzt schon zittert. Zum „Ekel der Saison“ wurde übrigens redaktions-fast- einstimmig Steffen Heitmann.
Der Rest der Republik hat sich anders entschieden, zumindest im Dezember. Was die gesellschaftlichen Umtriebe in dunklen Kinosälen anbelangt, so haben in den vergangenen sechs Wochen mehr als 3,9 Millionen Alt- und Neo-Disney-Fans „Aladdin“ und seine Wunderlampe bewundert, der „Beethoven“ gerufene Bernhardiner samt Nachwuchs lag mit 182.185 Zuschauern letzte Woche nur an zweiter Stelle.
Daß trotz CD-Rom-Bibeln und Megabyte-Musils auch noch ganz normal bedruckte Bücher gelesen wurden, mögen wir wohl gerne glauben, aber ausgerechnet Walter Kempowskis „Echolot“? Der 298 DM teure vierbändige Sechspfünder im Schuber steht jedenfalls auf Platz eins der Bestseller-Listen. Es muß am Weihnachtsdruck gelegen haben.
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