piwik no script img

Ein Nazi-Bürgermeister spaltet Leer

■ SPD-Bürgermeister hängt NS-Amtsvorgänger in der Ahnengalerie auf und wieder ab

Leer (taz) – Im Kleinen Sitzungssaal des historischen Rathauses von Leer in Ostfriesland ist Mitte Dezember eine alter Kopf neu in der Ahnengalerie der Bürgermeister der ostfriesischen Stadt aufgetaucht: Erich Drescher, Bürgermeister von 1933 bis 1945. „Nur weil ich das Gesicht kannte, fiel mir das auf“, sagt die Ratsfrau Lieselotte Wiese-Walker. Sie war gerade neun Jahre alt, als ihr Vater aufgewühlt nach Hause kam mit der Nachricht: „Die Synagoge brennt.“ NSDAP-Führer in Leer damals: Erich Drescher.

Mit Alufolie verhängte die empörte Dame das Bildnis. „Ich hätte es am liebsten zerschlagen.“ Sie sprach den derzeitigen Bürgermeister von Leer, den Sozialdemokraten und Landtagsabgeordneten Günther Boekhoff, an, was das denn solle. Der erklärte, Vergangenheit müsse eben aufgearbeitet werden, deswegen gehöre das Bild in die Ahnengalerie. Mit demselben Argument verteidigte der SPD-Fraktionsvorsitzende das Ahnenbild. Der CDU-Kollege fügte das Argument hinzu, der Drescher gehöre als Bürgermeister zur Geschichte der Stadt, also sein Bild an die Wand. Offiziell beredet war das aber angeblich nirgendwo. Mit keinem Wort beteiligte sich aber das sozialdemokratische Stadtoberhaupt an der Aufklärungsarbeit, in aller Heimlichkeit hatte er das Bild aufhängen lassen. In den Zeiten früherer CDU-Mehrheit hatte das NS-Bildnis schon einmal da gehangen, bis eine jüdische Delegation sich in Leer ankündigte und das Bild dezent verschwand. Der frühere SPD-Fraktionsvorsitzende von Leer und Bundestagsabgeordnete, Günther Tietjen, hatte sich danach immer wieder dafür eingesetzt, daß das Drescher-Bild in der Schublade blieb. Der aber war vor einem halben Jahr verstorben. Die Ratsfrau Wiese-Walker war zudem gerade aus dem Fraktionsvorstand ausgeschieden – offenbar schien die Zeit der SPD-Spitze gerade günstig.

Nach 1945 war Drescher im Rathaus von Leer der Prozeß gemacht worden, er hatte wegen seiner Beteiligung am Synagogenbrand und an den Deportationen eine mehrjährige Zuchthausstrafe bekommen. Dr. vom Bruch, der alte Bürgermeister aus der Weimarer Zeit, war 1933 von Drescher öffentlich der Korruption bezichtigt worden. Vom Bruch hatte sich, als Drescher als Staatskommissar eingesetzt wurde, im Rathaus mit der Pistole selbst erschossen.

Wenige Tage nach dem ersten Protest gegen das Neuerscheinen des Drescher-Bildes erklärten die Leerer Grünen und der unabhängige Ratsherr Hinzpeter, sie würden an Sitzungen und Empfängen nicht mehr teilnehmen, solange der Nazi im Rathaus geehrt werde. „Das Argument, das Anbringen des Bildes sei eine historische Sache, ist fadenscheinig“, schrieb Hinzpeter dem Bürgermeister. „Von Hitler hängt man auch keine Bilder aus ,historischen Gründen‘ auf.“ Der nachgeschobenen Begründung widerspricht vor allem auch die Geheimniskrämerei, von der dieser Akt angeblicher historischer Aufarbeitung begleitet war. Der breite Protest in Leer hat dann das nachgeholt, was die SPD- Spitze versäumt hatte. Die lokale Presse berichtete in einem Sturm der Entrüstung alles, was zu Drescher zu sagen war.

Schließlich mußte Bürgermeister Boekhoff klein beigeben und ließ das Bild wieder abhängen. „Ich wollte nicht, daß das polarisiert“, sagte der Bürgermeister und Landtagsabgeordnete zur taz. Man wolle das Thema im Verwaltungsausschuß diskutieren, im Rat der Stadt sei das „nicht erforderlich“. Die Mehrheit dort, das ahne er an den Reaktionen, sei dafür, eher eine Schrifttafel über Drescher als sein Bild nur mit dem Namenszug aufzuhängen. Auf die Frage, warum er denn das Ganze überhaupt ohne jegliche öffentliche Erklärung angefangen habe, weiß der Bürgermeister heute eine neue Antwort: „Das sollte provozieren.“ Klaus Wolschner

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen