■ Was denken Menschen mit Obdach über Obdachlose? Wie gehen sie mit Wohnungslosen um? Darmstädter Soziologen luden BürgerInnen zum Gespräch ein: "Dreckig, schlampig, stinkend"
Im Sommer letzten Jahres luden Darmstädter Soziologen Darmstädter BürgerInnen zur Diskussion über „Penner“, „Berber“ und Obdachlose ein. Die Gesamtzahl der Obdachlosen wird in der Bundesrepublik auf eine Million geschätzt, und es werden immer mehr. Das scheint die Menschen, die eine Wohnung haben, freilich nicht sonderlich zu beunruhigen. Öffentliche Aufmerksamkeit erregen die Wohnungslosen nur dann, wenn sie erfrieren oder erschlagen werden.
Die Darmstädter Soziologen wollten wissen, wie Nicht-Obdachlose, die über „Obdachlose“ nur aus der Zeitung erfahren oder als Passanten einen Bogen um sie machen, mit dem Problem „umgehen“; sie wollten erfahren, was „alle“ denken, aber gewöhnlich nicht sagen. Die TeilnehmerInnen der Diskussion, denen Anonymität zugesichert worden war, diskutierten unvorbereitet etwa zwei Stunden lang miteinander; ein Soziologe moderierte das Gespräch.
Die folgenden Ausschnitte aus der Gruppendiskussion wurden von Helmut Dahmer, der an der Technischen Hochschule Soziologie lehrt, für die taz zusammengestellt.
Es will ja keiner was tun...
„Ich denk' mir einfach, ein breites Bewußtsein, um da eine Möglichkeit des Abstellens oder des Verbesserns der Situation von Obdachlosen herzustellen, ist überhaupt nicht vorhanden. Es gibt dieses Bewußtsein, daß da jetzt was gemacht werden muß, daß da geholfen werden muß, daß Programme erstellt werden müssen, natürlich, das gibt es in weiten Kreisen der Bevölkerung meiner Ansicht nach nicht. Das gibt's auch schon gar nicht da, wo die Programme ja vielleicht auch herkommen sollten, nämlich bei der Politik. Das wird nämlich alles möglichst totgeschwiegen beziehungsweise in gewisser Weise auch beseitigt. Das sieht man hier in Darmstadt, beispielsweise, wo man, um das Straßenbild zu schönen, diese tolle Verordnung herausgegeben hat, daß eben – und das ging ja gerade gegen diese Gruppe – in der Öffentlichkeit kein Alkohol, kein Bier getrunken werden soll am Luisenplatz, hier in dieser Umgebung der Innenstadt. Das ist genau das klassische Bild der Reaktion, wie damit umgegangen wird, nämlich wenn man gar nicht damit umgehen will, sondern einfach: Augen zu und, damit's nicht so auffällt: Bitte nicht mit der Flasche rumlaufen! Ja, so etwa ist doch die Haltung. Und so ist die Haltung, glaub' ich, in fast allen Städten, und so ist auch die Haltung, so seh' ich das jedenfalls, in weiten Kreisen der Bevölkerung. Jeder denkt: Es gibt andere Probleme, was interessiert uns das.“
„Ja, ich denke, da wird eigentlich, im Grunde genommen, nichts dagegen getan.“
„Das ist ja dieses Problem: Keiner will ja was tun.“
„Und warum, denkst du, wird nix dagegen getan?“
„Halt vielleicht, weil's die Gesellschaft nicht will oder so.“
„Ich glaube, es müßte, wie es in Amerika jetzt zu Schwarzen-Aufständen kam, zu Obdachlosen- Aufständen kommen, damit sich da irgendwie was tut. Also, es müßte aus den Reihen der Obdachlosen zu einem tierischen Tohuwabohu kommen, damit das überhaupt wahrgenommen wird. Also, wahrgenommen wird's wahrscheinlich von jedem, weil es einem ja täglich begegnet. Aber es scheint, es wirkt ja so, und das belastet mich dann nicht, es scheint ja auch scheinbar trotzdem zu laufen: die leben da ja noch so. Es müßte zu irgendwelchen ganz massiven Ausschreitungen kommen, bis sich da irgend etwas tut. Vorher passiert auch nix, wird auch nix passieren. Ein Aufstand – oder irgendwas müßte über die Ufer treten oder so. Wie jetzt mit dem ... Ausländerproblem, mit den Anschlägen. Mit den Obdachlosen ist ja noch nix gewesen. Deswegen macht sich da drüber auch kaum einer Gedanken.“
„Und daß von der Bevölkerung, die es nicht betrifft, irgendwas passiert, kann ich mir einfach nicht vorstellen im Moment, daß da Initiativen ergriffen werden.“
„Ja, das ist ja auch irgendwo das Perverse ..., daß die einfach nix dagegen unternehmen. Das ist irgendwie schon abartig ... Aber ich bin mir sicher, daß von dieser Gruppe überhaupt gar nix kommen wird und zu erwarten ist.“
„Von den Obdachlosen?“
„Nein, von der Mehrheit.“
Sie sind anders, und sie sind bedrohlich
„Wir haben vorhin auch davon gesprochen, warum die Gruppe so als Außenseiter behandelt wird. Ich glaub', das ist auch ein Grund mit dafür, daß die Leute so behandelt werden – dieses schlechte Gewissen, ja, dieser Druck auch von außen. Jeder sagt, da muß was getan werden. Man kriegt das natürlich auch suggeriert. Da muß ich selber auch was tun ... Und aus so 'ner gewissen Bequemlichkeit heraus tun 99,9 Prozent der Bevölkerung halt tatsächlich gar nichts. Am besten löst man das Problem natürlich dadurch, daß man ihm aus dem Weg geht.“
„Das ist dann ... die Trennung zwischen zwei Gruppen. Auf der einen Seite die Normalen und auf der anderen Seite die Randgruppe.“
„Warum aber ist die Randgruppe auffällig oder beunruhigend?“
„Ich hab' das an und für sich schon so gemeint, daß sie deshalb auffallen, weil sie eine gewisse Beunruhigung hervorrufen, nicht umgekehrt: Daß sie, weil sie auffällig sind, beunruhigend wirken.“
„Also, dieses Beunruhigende kommt sicherlich woanders her.“
„Ja, das ist doch zuerst mal das Optische, könnt' ich mir denken ...“
„Da spielen sicher auch Vorurteile mit, natürlich.“
„Mhm: dreckig, schlampig, stinkend.“
„Guck dir das doch mal an, wenn so Penner oder Tippelbrüder am Luisenplatz sitzen. Also, ich find' das immer ganz, ganz interessant zu beobachten, wie die Leute an denen vorbeilaufen. Die werden ja auch ganz bewußt ignoriert. Meist wird versucht, mit Scheuklappen an denen vorbeizulaufen.“
„Die meisten stört's doch einfach, oder?“
„Ich geh' auch immer mit 'nem Bogen drum rum.“
„Warum?“
„Warum? Weiß ich nicht. Mach' ich. Da hab' ich noch nie drüber nachgedacht, warum ich's mach'. Jetzt ist es mir eben auch grad erst aufgefallen, daß ich das mache.“
„Also, bei mir ist es, glaub' ich, weil ich irgendwie auch manchmal echt 'nen Bogen ums Elend machen will.“
„Das ist auch gar nicht abstoßend oder eklig oder so ..., nur, ich würde da keinerlei Konfrontation irgenwie finden oder so.“
„Das kann man auch gar nicht machen, daß man sich quasi jetzt mit jedem Problem so intensiv beschäftigt. Das geht natürlich nicht, sonst fällt man auch selber hinein ... Da rutscht man dann eventuell auch selber da rein, wird man auch, eventuell, depressiv.“
„Woran erkennt man Penner eigentlich?“
„Das ist auch das Verhalten, zum Teil. Also, wenn irgendwo einer auf der Straße liegt, dann ist der entweder verletzt, oder er liegt dort, um zu schlafen. Da ist er halt entweder betrunken, oder er hat sich ganz einfach zur Nacht gelegt. Das ist schon mal das eine, was natürlich auffällt ... Das weist die Leute ziemlich eindeutig aus, das müssen dann noch nicht einmal besonders abgerissene Typen sein, sondern das ist einfach das Verhalten.“
„Also, daß man da, wo Normale nicht schlafen, schläft.“
„Ja.“
„Da ist, denk' ich, auch noch ein anderer Umgang mit dem Körper. Die haben ja eigentlich kein Körperbewußtsein mehr, also auch kein Empfinden, was Krankheiten angeht. Das ist ja etwas, das ich eigentlich überhaupt nicht nachvollziehen kann. So 'ne gewisse, ja, sei's Reinlichkeit, oder wenn Läuse in den Haaren sind. Da würd' unsereins die Krise kriegen. Und dieses Gefühl, das ja halbwegs intakt sein sollte, das ist einfach nicht mehr da: Es ist absolut egal, ob ich jetzt Läuse auf'm Kopf hab' oder nicht, das ist mir eigentlich wurscht. Wieviel Schrammen, Wunden und Eiterbeulen ich an mir hab', spielt doch keine Rolle, es interessiert sich sowieso keiner dafür. Also es sind so eine ganze Menge Dinge, wo ich überhaupt nicht nachvollziehen kann, woher diese absolute Gleichgültigkeit kommt. Gut, das wird nicht nur auf den Körper beschränkt sein, das gilt dann für alles...“
„Die leben ständig öffentlich. Das muß eigentlich was, fast möcht' ich sagen, Erniedrigendes sein.“
„Und sie sind eben von den meisten Leuten nicht so gerne gesehen.“
„Weil sie auffallen im Stadtbild, denk' ich mir.“
„Wodurch fallen die auf?“
„Bedrohlich.“
„Ach nee ...“
„Doch, doch. Das ist bedrohlich. Ich bin – als ich vorhin durch die Anlage gelaufen bin, liegt draußen auch einer mit'm Schlafsack. Ich bin kein besonders ängstlicher Mensch. Trotzdem kann ich mir ganz gut vorstellen, daß, ich will es mal salopp ausdrücken, so eine finstere Figur, wenn sie einem da so in einer menschenleeren Gegend im Weg liegt, doch schon Angst auslösen kann ... das ist wohl für jeden ein unangenehmes Gefühl. Und ich glaub', deshalb fallen diese Menschen auch auf ...“
„Es ist sicherlich ganz einfach mit unserer ureigenen Angst zu beschreiben ...“
Wie man soziale Probleme „beseitigt“
„Das Obdachlosen-Problem würd' ich mit dem Asylanten-Problem irgendwie zusammensetzen, das hängt ziemlich dicht zusammen. Ich hab' letzthin im Fernsehen gesehen, daß viele Obdachlose auch über Asylanten geschimpft haben: Die haben ein Dach überm Kopf, die haben 'nen Container und so. Und wir sind hier unter Druck und werden immer verjagt...“
„Wenn es zum Beispiel eine Lobby gäbe, die mit der Forderung aufträte: ,Alle Obdachlosen sind so zu stellen, wie die Asylbewerber vor ein paar Jahren gestellt waren‘ – würde das Sinn machen?“
„Ich glaube, das würde auch weiterhin Haß in der Bevölkerung schüren: die kriegen das, die kriegen die Wohnung, und die kriegen auch noch Geld, ich sag's mal jetzt, in den Hintern geschoben und tun dafür nichts.“
„Das kriegen sie ja auch so.“
„Ja, aber dann wär's noch viel offensichtlicher. So sieht man die ja immer noch auf der Straße liegen, die Armen.“
„Ja, ich denk', unser Staat hat das aber auch ganz gut drauf, das zu vertuschen. Es gibt ja auch 'ne ganze Menge Großstädte, wo die offensichtlichen Obdachlosen immer mal wieder so vom Hauptzentrum weggenommen werden und woanders hingesetzt werden, wo sie nicht mehr so auffallen sollen.“
„Ja, ist ja auch ein unschönes Bild...“
Sozialer Tod, Kältetod, Mord
„Also, ich denk', daß es da die verschiedensten Todesursachen gibt. Daß viele sterben, weil sie krank werden, weil sie irgendwelche Krankheiten haben, irgendwelche Amputationen erfolgen – nach Unfällen, die auch nicht richtig behandelt werden, die verschleppt sind und sich immer mehr verschlimmern. Dann sterben Obdachlose einfach durchs Erfrieren. Und ... sicher auch durch Straftaten von anderen.“
„Ich würde mal sagen, wenn die sich gegenseitig kloppen, da ist mittlerweile die Einstellung der, möcht' ich mal sagen, sozial Höhergestellten so, daß wir praktisch noch froh sind, wenn da einer weniger da ist. Da sagt man dann halt, na ja gut, um's mal wirklich kraß zu sagen: Einer weniger, der mir auf die Pelle geht.“
„Und ich glaub', selbst wenn so ein Penner ermordet wird oder so, dann tut man das auch schon damit ab, daß der ja eh kein gutes Leben gehabt hat ...“
„Sie sind auch schutzloser, geschwächt, können sich schlechter wehren. Sie sind vielleicht so besoffen, daß sie's gar nicht mitkriegen. Es ist einfach einfacher, so einen umzubringen, wenn ich Lust hab', einen umzubringen.“
„Vor allem ist das ein einfaches Opfer. Das Opfer ist quasi schon da, das muß ich nicht erst aufsuchen... Das schläft da auf der Parkbank. Da gibt's keine Zeugen ..., da gibt's keine Gegenwehr.“
„Möglicherweise auch gut geeignet für 'ne Mutprobe. Weiß ich nicht, ob's solche Sachen gibt, aber...“
„Ja, er hat das sehr kraß ausgedrückt vorhin, daß man sich nur deshalb nicht einmischt, weil es einem im Endeffekt ja doch recht ist, wenn's wieder einen weniger gibt. Das kann ich mir im speziellen nicht vorstellen. Daß natürlich eine gewisse Ablehnung gegen diese Gruppe da ist, das kann ich mir sehr wohl vorstellen. Nur die Lösung scheint mir jetzt etwas radikal. Weil wir jetzt gerade bei ,radikal‘ sind: Was rechtsradikale Gruppen angeht, denk' ich, gehört's bei denen nahezu zur Ideologie, gegen solche Gruppen vorzugehen. Es sind ja nicht nur Ausländer, es sind ja auch Deutsche, die nicht so recht in das klassische rechte Bild vom Deutschen passen ... z.B. eben die Penner. Dazu gehören dann, wie gesagt, nicht nur Ausländer, dazu gehören auch Andersreligiöse, dazu gehören Behinderte ... So ist es tatsächlich. Und die gehen dann natürlich auch gegen solche Gruppen vor ...“
„Es ist einfach das, daß sicherlich da gezielt auf Menschen losgegangen wird, die anders sind. Weil das andere abgelehnt wird ... Voraussetzung war, daß man selbst, als Täter, nicht in Gefahr war. Das war immer die Voraussetzung dafür – praktisch eben so, wie im Reich der wilden Tiere nach der Hackordnung zugeschlagen wird ... Aus der Lebensweise dieser Gruppe, nämlich obdachlos zu sein, ergibt sich diese Wehrlosigkeit. Das Haus, die Tür, ist ja auch eine Wehr, ein Schutz. Das kann ich zumachen, zuschließen. Und wenn ich irgendwo auf einer Parkbank schlafe und jeder dran vorbeigeht, dann ist diese Wehr, dieser Wall oder was auch immer, nicht mehr da.“
„Und es gibt keinerlei Privatsphäre, also ist man immer öffentlich.“
„Natürlich geht von den Obdachlosen eine gewisse Bedrohung aus. Allein schon deshalb, weil für diese Leute, die zu dieser, sag' ich mal, Klasse der Obdachlosen gehören, gewisse Normen oder Konventionen, die hier wahrscheinlich alle beachten, nicht mehr gelten. Die akzeptieren die nicht mehr, die haben sich davon losgelöst. Das ist ja gerade auch dieses Pathos des Zugehörigseins, daß man einfach ein anderes Weltbild hat. Da gibt es längst eine ganz andere Distanz dazu, weil die einfach als eine andere Klasse angesehen werden...“
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