Das Homöopathikum

■ Das Pay-TV premiere - Kommerzfernsehen mit Grimme-Sahnehäubchen

„Ein Scheißhaufen mit sieben Millionen Fliegen drauf“ ist RTL nach Meinung von premiere-Chefredakteur Jörg Grabosch. Das ist nicht böse, sondern im Gegenteil ganz liebevoll gemeint. Denn erstens geht der kreative Grabosch Ende Feburar selbst nach Köln, und zweitens ist die Aussage des Noch-Chefredakteurs rein arithmetisch gemeint: Je erfolgreicher die Programminseln des werbefinanzierten Privatfernsehens sind – und je mehr Werbe(-Vollprogramm) dadurch anfällt –, desto nachhaltiger klingelt auch bei premiere die Kasse.

Im Sat.1- und RTL-Werbefeldzug wider den Sehnerv wurde der Hamburger Pay-TV-Kanal nämlich die Kriegsbraut des Zuschauers. Die Werbefreiheit des Hamburger Programms sticht – nach dem konkurrenzlosen Spielfilm- Angebot noch vor dem Fußball (Spiel der Woche live) – als Hauptargument für den monatlich 41 Mark teuren Bezahlkanal.

Trotz der großen Konkurrenz von 22 kostenlos empfangbaren Sendern werden täglich bis zu 1.000 neue AbonnentInnen verbucht (im Weihnachtsgeschäft an die 3.000). Bei einem absoluten Rückgang der durchschnittlichen täglichen TV-Nutzungszeit spricht dieser Trend der Rückbesinnung auf Fernsehfeinkost für premiere. Nach dem Sendestart im März 1991 stieg die Abonnentenzahl von 100.000 binnen zweieinhalb Jahren rascher als geplant über die Amortisierungsschwelle von einer Dreiviertelmillion.

Der durchschnittliche premiere-Abonnent gehört einer jungen Familie an (25-40 Jahre), die wegen des ersten Kindes nicht mehr ins Kino geht. Ihr überdurchschnittlicher kultureller Standard spiegelt sich in Belesenheit (Zeitschriften) und Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Technologien (Video, BTX). „Also genau das junge, kaufkräftige Publikum, das RTL gerne hätte“, so Grabosch. An dem die Kölner aber wegen mangelnder Programmqualität vorbeisenden.

Nicht so premiere, dessen Qualität darin liegt, Fernsehen seinen Ereignischarakter zurückzugeben. Das beginnt bei premiere mit dem ersten Sichtkontakt. Durch gezieltes Vermeiden von Computeranimationen, elektronischen Umblättereffekten und nervösen Fliegebildern wirkt die mit aufwendigen Trailern gestaltete Bildoberfläche vielschichtiger, harmonischer. Ereignis bedeutet ferner Reanimation des „Rockpalastes“ und schließt das nicht unwesentliche Detail ein, Spielfilme nicht um ihre Vor- und Abspanne zu beschneiden, sondern durch ein Rahmenprogramm (Dokumentationen über Filme, Regisseure und Schauspieler) zu ergänzen.

Die hohe Qualität des Angebots resultiert aus dem aus Frankreich entlehnten premiere-Konzept, weder ein Massenprogramm noch ein unbedeutendes Spartenprogramm zu entwickeln. 3,6 Millionen Abonnenten hat das französische Vorbild Canal+. Ohne dessen terrestrische Ausstrahlung spekuliert premiere auf ein bis zwei Millionen ZuschauerInnen. Damit wären die Hamburger ein Qualitäts-Korrektiv, an dessen Meßlatte kein anderer Sender mehr vorbeikäme.

Die Gesellschafterstruktur von premiere verzeichnet neben 37,5 Prozent Bertelsmann und 37,5 Prozent Canal+ eine 25prozentige Beteiligung der Kirch-Gruppe. Wodurch eine Selbst-Konkurrenz des Münchner Medienzaren unabwendbar ist: Den genialen premiere-Spot mit dem aufgeschlitzten Ölgemälde („Würden Sie Filme durch Werbung unterbrechen?“) hat der Kirch-Sender Pro7 auf das Gelächter der Branche hin rasch wieder abgesetzt; RTL zeigte ihn gar nicht.

Grundsätzlich kann man premiere nicht als Gegengift gegen die werbefinanzierten Privaten einsetzen. Wohl aber als Homöopathikum. Premiere bemüht sich, für jede Sendung die adäquate fernsehspezifische Form zu ermitteln. Das funktioniert zumeist über den Quereinstieg. Franz Beckenbauer kommentiert Golf. Das vom Zeitungsdesigner Neville Brody (The Face) entworfene premiere-Outfit erhielt nicht zufällig den Adolf- Grimme-Spezialpreis für Gestaltung. Und für den kurzfristig abgesprungenen Dietmar Schönherr kam der promovierte, aber unerfahrene Roger Willemsen, der die Zehn-Minuten-Gesprächszyklen „0137“ (unverschlüsselt) gegen eine Armee von Unkenrufen zur oft kopierten Talk-Institution machte.

Die hierzulande einzigartige Quotenunabhängigkeit zaubert eine gewisse Gelassenheit in die Physiognomie der premiere-Macher. Die solide finanzielle Decke ermöglicht eine Mischform zwischen verschlüsseltem und unverschlüsseltem Programm. Premiere ist ein Zimmer mit Aussicht: Täglich zwischen „heute“ und „Tagesschau“ öffnet sich das auch ohne Dekoder empfangbare „Clear Window“. Heute erweitern die Hamburger ihr Sneak-Programm einmalig auf die Sendezeit zwischen 12 und 20.15 Uhr (s.u.). Eine erfolgversprechende Werbeidee der Abonnenten-Betreuung.

Nach genau 601 Sendungen wird mit dem Wegfall von „0137“ die unverschlüsselte Schiene leider täglich um 30 Minuten verkürzt: „Wir müssen etwas Neues machen“, sagt Programmchef Kröhne. „,0137‘ stellen wir ein, weil es zu oft kopiert wurde. Die Halbwertzeit unserer Programmerfindungen wird immer geringer.“ Deswegen wurde nun eigens eine „Entwicklungsredaktion“ gegründet, die laufend neue Sendungen erfindet: „Die Zeit der ständig laufenden Formate ist vorbei.“

Starke innovative Impulse gehen stark vom Unterhaltungssektor aus. Da die Late-Night-Schiene, so Jörg Grabosch, bei absolutem Rückgang der TV-Nutzungszeit der einzige zuwachsfähige Sektor sei, produziere er auch nach seinem Weggang ein wöchentliches Mitternachts-Special mit „0137“-Star Sabine Brandi. Arbeitstitel: „Appartment“. Daneben ist „TVTV“ als Boulevard- Medienmagazin eine echte Ergänzung zum Vox-Erfolgsformat „Canale Grande“. Und anhand des virtuos gestalteten Clipfeuerwerks „Die 4. Dimension“ (von und mit „Die phantastischen Vier“) wird deutlich, wie geistlos Musiksendungen wie „Formel I“ eigentlich waren. Jüngster Geniestreich: Auf knackige fünf Minuten reduziert „Zapping“ die peinlichsten Outtakes von 70 täglichen Fernsehstunden. Fünf Zapper beobachten dafür in Drei-Stunden-Schichten acht Kanäle auf vier Monitoren gleichzeitig (am Wochenende bis zu 200 Stunden täglich). „Fernziel ist, daß man mit Zapping auf den Rest des Fernsehens verzichten kann“, erklärt Unterhaltungs-Chef Guido Thomsen augenzwinkernd. Manfred Riepe

premiere unverschlüsselt: 12.05 Uhr: „Romeo und Benjamin Blümchen“; 12.50 Uhr: „König der Kormorane“ (Doku); 13.30 Uhr: „Roger Willemsen“; 13.45 Uhr: „PremiereSpecial“ mit Sting, Paul McCartney, Madonna, U 2; 14 Uhr: „Tina-Turner in Concert“; „Pallas“ (Comedy); 15.30 Uhr Hallenfußball Turnier aus München; 18.30 Uhr: „Manta – Der Film“.