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Multikultur – nur ein Kirchentagsmotto?

Daniel Cohn-Bendit und Claus Leggewie plädieren für die Vereinnahmung und Instrumentalisierung eines „Kampfbegriffs“: So chic wie Öko („Jute statt Plastik“) soll auch Multikulti werden  ■ Das Gespräch führten Bahman Nirumand und Franco Foraci

taz: Herr Leggewie, Herr Cohn- Bendit, Sie haben die Debatte um die multikulturelle Gesellschaft geprägt. Hat der Begriff nach Mölln und Solingen ausgedient?

Claus Leggewie: Das sicher nicht. Eine multikulturelle Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der ein höheres Maß an ethnischer Differenzierung, religiösem und kulturellem Pluralismus herrscht. Ab einem bestimmten Zeitpunkt wird eine multikulturelle Gesellschaft sich auch qualitativ unterscheiden von einer monokulturellen: Dann, wenn keine klar identifizierbare Mehrheit mit sprachlicher, kultureller, religiöser Einheitlichkeit vorhanden ist, um die sich verschiedene Minderheiten herumgruppieren müssen.

Daniel Cohn-Bendit: Nimmt mann oder frau diese Definition zur Grundlage, dann ist der Begriff der multikulturellen Gesellschaft ein politischer Kampfbegriff geworden.

Es ist absurd, die deutsche Gesellschaft von heute als kulturell eingleisige Gesellschaft sehen zu wollen: In Frankfurt am Main leben 27 Prozent Ausländer, in Berlin 24 Prozent Migranten. Und warum? Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre wurden aus ökonomischen Gründen Fremde ins Land geholt. Daraus wurde unweigerlich eine multikulturelle Gesellschaft.

Ob einem das gefällt oder nicht, ist eine ganz andere Frage. Konservative oder Rechtsextreme verdrängen dies, weil sie mit Ressentiments politisches Kapital schlagen wollen.

Es ist doch kaum zu leugnen, daß sich die Minderheiten um die kulturelle Mehrheit der Deutschen scharen. Die beherrschen vielleicht nicht das gesamte kulturelle Leben, aber zweifellos das wirkliche Leben in dieser „Demokratie“ total. Widerspricht dies nicht der gerade beschriebenen Tatsache der Einwanderung?

Claus Leggewie: Wenn Sie sagen, die deutsche Mehrheit gibt den Ton an, dann ist es nicht mehr in der Weise der Fall, wie das in der mittelbaren Nachkriegszeit festzustellen war. Im Bereich der kulturellen Avantgarden spielen die ethnischen Minderheiten bei uns eine geradezu tragende Rolle. In den USA ist dies noch sehr viel deutlicher ausgeprägt: Trends, die die Gesamtgesellschaft erneuert und weitergebracht haben, sind meistens von Minderheiten ausgegangen. Multikultur ist also nicht die Summe nebeneinander lebender Kulturen, sondern was aus ihnen als Konglomerat erwächst.

Hierzulande wird von den Intellektuellen vorgegeben, was Multikultur sein soll. Im klassischen Einwanderungsland USA...

Daniel Cohn-Bendit: ...gab es erst mal eine zwangsläufige und dann eine Vernunftdefinition von oben. Und bei jeder neuen Einwanderungswelle gab es eine Konfrontation unten: Die Deutschen etwa wurden sehr argwöhnisch angesehen, als sie in Massen in die USA auswanderten. Später ging es mit den Katholiken ähnlich. Das war ein Kulturkampf erster Güte: Die polnische, katholische Einwanderung gegen die angelsächsi

sche, protestantische Bevölkerung. Da ist die Auseinandersetzung, die wir in Europa mit dem Islam erleben, nichts dagegen. Also, man soll es nicht verklären, wie kulturelle Konflikte in diesen Einwanderungsländern ausgetragen wurden.

Wir haben es natürlich mit zwei Realitäten in der Bundesrepublik zu tun: Zum einen haben wir die objektive Realität der Einwanderung, zum anderen ein verkorkstes Selbstbewußtsein der Deutschen. Die Eliten, die für die multikulturelle Gesellschaft eintreten, sind mit der Lupe zu suchen. Eines der wichtigsten Probleme ist doch: Das Multikultur-Prinzip ist trotz seiner häufigen Medienwirksamkeit bei weitem nicht Konsens der Eliten. Sonst würde es mit der Verwirklichung dieser realen Utopie viel schneller gehen.

Claus Leggewie: Wir haben es nicht geschafft, den Begriff der Multikultur so zu verallgemeinern, daß er bedenkenlos als ein Selbstbeschreibungskriterium der Gesellschaft akzeptiert wird. Im Gegenteil. Wenn man den Begriff erwähnt, erzeugt man sofort eine Emotionalisierung, die der Sache abträglich ist.

Dies hängt weniger damit zusammen, wie der Begriff intellektuell verwendet wurde, sondern was nach 1989 oft aus ihm gemacht wurde: er wurde nämlich als Gegenstück zur Wiedervereinigung präsentiert. Das war von Anfang an ein Fehler. Multikultur ist keine Gegenutopie; Multikultur ist überhaupt keine Utopie, sondern ein ganz nüchterner Beschreibungsbegriff mit sozialwissenschaftlichen Implikationen. Damals ist in einer fatalen und für unseren politischen Diskurs sehr typischen Vereinfachung immer wieder gesagt worden: Entweder Viertes Reich oder multikulturelle Gesellschaft...

...und dann müßte man in der „bunten Republik Deutschland“ fürchten, daß Menschen sich für das tiefbraune Vierte Reich entscheiden könnten?

Claus Leggewie:Nein, weil der Begriff damit total überlastet wird. Er ist nicht dafür gedacht, die negativen Auswirkungen der Wiedervereinigung aufzuhalten. Anders gewendet: Wir müssen nicht nur akzeptieren, daß 16 Millionen ehemalige DDR-Bürger zu dieser Nation gehören. Wir müssen auch sehen, daß es das Phänomen der inneren Einwanderung von diesen Leuten gibt. Die haben sich überhaupt nicht von der Stelle bewegt, sind aber jetzt wie Einwanderer: Sie müssen sich an neue Verhältnisse gewöhnen, und sie müssen psychologische Spannungen aushalten.

Die Anerkennung dieser „inneren Einwanderung“ ist komplementär zur Akzeptanz einer äußeren Immigration von sieben Millionen sogenannten Ausländern. Beides ist eben nicht gelungen, weil man es zu stark als Gegensätze hochstilisiert hat. Man hat bewußt polarisiert, indem man gesagt hat, wir werden diese 16 Millionen und die zwei Millionen Deutschen, die in Rußland und Kasachstan noch leben, unter national-ethnischen Gesichtspunkten einbeziehen und die anderen, die Fremden, nicht. Selbst diese Integrationsstrategie hat nur scheinbar funktioniert.

Fällt es den Deutschen besonders schwer, sich als multikulturelle Gesellschaft zu verstehen?

Claus Leggewie: Es gibt keinen einzigen Beleg dafür, daß die Deutschen besonders große Probleme mit dem Multikulturalismus haben. Weder kann man die Zahl der Anschläge dafür als Beweis nehmen, weil die Zahl der Anschläge gegen Migranten in fast allen Gesellschaften genauso hoch ist...

Daniel Cohn-Bendit: ...aber bei uns sind sie viel mörderischer!

Claus Leggewie: Auch das stimmt nur zum Teil. Ich habe gerade eine britische Statistik in die Hand bekommen, die 7.000 solcher Fälle pro Jahr aufführt und in der von über 20 Toten die Rede ist. Ich will nur sagen: Wir lassen uns natürlich selbst von den Anschlägen, die schlimm genug sind, ein bißchen wieder auf den deutschen Sonderweg treiben, auf dem eigentlich die Deutschen seit den Sechzigern, Siebzigern nicht mehr gewesen sind.

Sie haben doch selbst gesagt, der Begriff der multikulturellen Gesellschaft weckt kontroverse Emotionen. Hierfür muß es einen spezifisch deutschen Grund geben.

Claus Leggewie: Ich führe das auf die besondere Situaton zurück, in der wir uns um 1989 herum befunden haben. Erstens: Können wir wirklich empirisch behaupten, die Deutschen haben ungewöhnlich große Schwierigkeiten, ihren Zustand, ihre Metamorphose zu akzeptieren? Für die sechziger, siebziger Jahre kann man dies nicht sagen. Ich glaube, daß Deutschland damals ein verhältnismäßig ausländerfreundliches Land gewesen ist...

Daniel Cohn-Bendit: ...Ja, ja, paternalistisch ausländerfreundlich. Nach dem Motto: Mein kleiner Ausländer...

Claus Leggewie: ...wie in Frankreich auch. Der hilflose Schwarze aus Westafrika: zu dem hat man sich auch ziemlich paternalistisch verhalten. Aber er hatte einen großen Vorteil...

Daniel Cohn-Bendit: ...Sein Vorteil war in erster Linie, daß ihm die Sprache und Kultur von Anfang an vertraut waren, weil er aus ehemaligen Kolonialgebieten stammte – und er es durch das republikanische Staatsbürgerrecht leichter hatte Franzose zu werden.

Claus Leggewie: Ganz genau! Das sind die beiden Punkte, die es in Frankreich leichter machen. Zweitens: Schauen wir doch einmal das Heiratsverhalten an. Es gibt wenige bikulturelle Ehen hier. Und wie viele nichtdeutsche Freunde hat denn jede deutsche Familie? Wenige. Man lebte in den siebziger Jahren einfach nebeneinander her. In den Achtzigern jedoch sind politische Fehler gemacht worden. Dadurch hat sich die Gleichgültigkeit gegenüber Fremden in Skepsis bis Ablehnung verwandelt.

Sie meinen die Ausländer- und Asylpolitik der Bonner Koalition unter Helmut Kohl?

Claus Leggewie: Ja sicher. 1982 wurde die rechtkonservative Wende verkündet, auch in der Ausländer- und Asylpolitik. Außerdem neigt Deutschland in internationalen Streßsituationen wie um 1989 sehr leicht dazu, einen fast lächerlichen und eigentlich der kulturell und regional differenzierten Struktur nicht angemessenen Nationalismus zu entfalten. Die Deutschen haben als Angehörige einer verspäteten Nation 1990/91 auf das Angebot von Meinungsführern in den Medien und in der Politik reagiert: Sie wollen jetzt endlich eine normale Nation sein und hängen daher einem übertrie benen Nationalismus nach. Und sie halten das für ganz normal. So sind die Fortschritte von gegenseitiger Koexistenz und Anerkennung wieder zurückgenommen worden.

Daniel Cohn-Bendit: Wir erleben heute im Grunde zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik eine richtige gesellschaftliche Auseinandersetzung über Einwanderung – seit etwa drei, vier Jahren. Für diese unentschuldbare Verzögerung ist nicht nur die Rechte verantwortlich zu machen, sondern auch die Linke. Haben linke Soziologen nicht das Problem der Einwanderung vollständig ignoriert? Weder die Studentenbewegung noch andere Vertreter der Linken haben sich wirklich um das Thema gekümmert. Die Studentenbewegung kannte viel besser die Lebenssituation des Reisbauern in der Mekong-Ebene als die Lebenssituation des bei Opel am Band schaffenden anatolischen Bauern in Rüsselsheim.

Durch den Nationalsozialismus ging die unsägliche Debatte in Deutschland um deutsche Identität immer ein Stück weg von der alltäglichen Realität hin zu absoluten moralischen Kategorien im Angesicht von Auschwitz. Ich kritisiere das beileibe nicht, es erschwert aber die Public-Relations- Arbeit für unseren Ansatz der multikulturellen Lebenswirklichkeit.

Daß sich das Staatsangehörigkeitsrecht in Deutschland nach dem Gesetz des Blutes definiert, wissen die Linken, seit es besteht – seit 1913! Ich habe 1968 keinen Hörsaal besucht und weiß auch von keinem, der sich mit dieser Problematik und ihren gesellschaftlichen Auswirkungen befaßt hätte. So gesehen hat die jetzige Situation etwas Positives: Es wird wenigstens gestritten.

Im linken Spektrum der etablierten Parteien (Grüne, AL, PDS) geht es nur um eines: um ein Einwanderungsgesetz, das bestimmte Zuzugsregeln festlegt und als Allheilmittel gegen Rassismus verkauft wird.

Daniel Cohn-Bendit: Einwanderungspolitik beginnt und endet nicht mit irgendwelchen Gesetzen. Aber diese schaffen positive Fakten: Mit einem Einwanderungsgesetz gibt es ein Einwanderungsministerium, gibt es Einwanderungsbehörden, gibt es politische Kämpfe um Fragen ganz praktischer Art. Wir fangen dann an zu diskutieren: Wo sind die Vorbereitungen der Lehrer an den Hochschulen für eine multikulturelle Pädagogik? Wo ist ein Lehrstuhl für multikulturelle Konflikte? Wo werden Marktbedingungen zugunsten multikultureller Dienstleistungen und Projekte verändert? Nirgendwo!

Wie ist es mit den Ausländern? Man setzt einfach so voraus, daß sie alle die multikulturelle Idee gut finden.

Claus Leggewie: Zwischen Deutschen und Fremden gibt es in der Frage, ob man eine solche Idee aufoktroyieren kann, keinen großen Unterschied. Sicher finden sich viele hier lebende oder noch zuwandernde Ausländer, die mit Multikultur überhaupt nicht leben können: Nennen wir sie ethnische Fundamentalisten. Sie können sich mit dieser Vision von Toleranz und Akkzeptanz anderer Lebensstile nicht anfreunden.

Eine kulturzentrische, fundamentalistische Reaktion wie diese entspricht dem, was wir unter deutschen Familien beobachten können, die dasselbe sagen: Sie können sich auch nicht vorstellen, ihre Kinder auf eine Schule zu schicken, in der die Deutschen in der Minderheit sind. Dieses Verhalten ist aber weder allgemein noch zwangsläufig – auf beiden Seiten. Es hat sehr stark mit politischen und gesellschaftlichen Vorgaben zu tun. Der Multikulturalismus ist eine sehr stark leitbildabhängige Vision. Es ist zu beweisen, daß der Multikulturalismus in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern einfacher war als heute.

Heute haben sich nicht großartig die Zahlen verändert, vielmehr ist eine Asyldebatte hinzugekommen, die Inländer ohne deutschen Paß permanent als „Fremde“ dargestellt hat. Jeder Konflikt, den es im multikulturellen Alltag gibt, wird seitdem als ein unlösbarer angesehen, den man scheinbar nur dadurch bewältigt, indem man sich gegenseitig abschottet. Konservative Gruppen haben diese Stimmung forciert.

Läßt sich der Islam für die säkularen Multikulturformen gewinnen?

Daniel Cohn-Bendit: Der Islam, was ist schon der Islam? Vor zehn Jahren, zur Zeit der Olympischen Spiele in Sarajevo, ist keinem Journalisten das „Moslem-Problem“ in den Sinn gekommen, weil die Muslime selbstverständlich im exjugoslawischen Alltag eingebettet waren. Der Islam war genauso nichtexistent wie der Katholizismus oder das Christentum.

Richtig ist, daß wir natürlich unter der Bedingung der multikulturellen Gesellschaft und der Religionsfreiheit einem politischen Islam, der fundamentalistisch geprägt ist, begegnen müssen. Wir empfinden ihn als politischen Gegner, und der ist so tolerant beziehungsweise intolerant wie Wojtylas christliche Lehre, in Reinform gelebt: siehe Opus Dei in Spanien und Colonia Dignidad in Chile. Die einfache Gleichung: Christentum bedeutet moderner, aufgeklärter Geist und Islam rückständige, autoritäre Lebensideale, die geht nicht auf.

Claus Leggewie: Vom algerischen und iranischen Beispiel abgesehen ist dem Islam nichts eigen, was von vornherein das friedliche Zusammenleben mit säkularisierten Kulturen und Religionen ausschließt. Die meisten der maßgeblichen Interpreten des Koran, die Mullahs, sehen es leider anders. Warum ich für den Islam im Westen plädiere: Der Islam braucht eine geistige Basis, um eine Alternative zu diesem rechtsextremen, fremdenfeindlichen Islamismus herzustellen. Diese kann sich – Frucht einer merkwürdigen, weltgeschichtlichen Entwicklung – wahrscheinlich nur im Westen einstellen.

Wie steht es um das Verständnis und die Toleranzfähigkeit vieler Ausländer in einer multikulturellen Gesellschaft?

Daniel Cohn-Bendit: Ganz typisch ist das Beispiel Kopftuch. Für einen Großteil der iranischen Flüchtlinge gilt es als Wahrzeichen des absoluten Terrors. Eingewanderte Migranten aus Marokko, der Türkei und Algerien sehen in dem Kopftuch das Symbol ihrer Autonomie, gegen den Werteverfall und die soziale Verwahrlosung des einzelnen. Wie kriegt man Konflikte dieser Art unter ein Kopftuch? Totalitäre Züge der Einwanderung muß man bekämpfen. Aber man muß auch den Wunsch nach islamischer Religion zulassen und ihm eine Struktur geben. Aus diesem Drahtseilakt werden multikulturelle Konfliktlösungen geboren.

Claus Leggewie: Eine offizialisierte Anerkennung des Islam ist zu befürworten, vor allem um fundamentalistische Tendenzen kontrollieren zu können. Bestimmte Dinge akzeptieren wir in der BRD nicht, weil wir eine republikanische Staatsform haben. Das ist, wenn man so will, die legale Grenze von Multikultur.

Daniel Cohn-Bendit: Stichworte Assimilation und Integration. Natürlich ist es Zweck der Integration, daß der gefundene politische Konsens auch von den Eingewanderten verinnerlicht wird. Die Klitorisbeschneidung, beispielsweise, darf nicht hingenommen werden. Es ist mir Wurscht, ob das eine kulturelle Ausdrucksweise ist. Jeder, der hier einwandert, muß wissen: Das ist verboten! Wenn es ihm nicht gefällt, muß er zurückgehen. Da gibt es kein opportunistisches Zugeständnis. Genauso wie man sagen muß, in diesem Land ist es verboten, Häuser anzuzünden, sonst geht man lebenslang ins Gefängnis.

Für eine multikulturelle Gesellschaft sind Demokratie und Menschenrechte unabdingbar. Ein Blick auf Deutschland und den Rest der Welt läßt da nicht gerade hoffen.

Daniel Cohn-Bendit: Wer sagt, die Karten sind schlecht gemischt für uns, hat starke Argumente. Deswegen: Es ist nichts entschieden. Aber mir macht die traditionelle Form linker Politik angst, wo man sich immer wieder in der Pose des Verlierers suhlt. Es ist ja die Frage, inwieweit wir die Idee der multikulturellen Gesellschaften so rüberbringen können, daß sie als normal angesehen wird. Denn wir werden zusätzlich zu den universellen Menschenrechten formulieren müssen, was die universellen Umgangsformen mit sich entwickelnden multikulturellen Gesellschaften sind. Am Ende dieses Prozesses muß eine UNO-Konvention zur Multikultur stehen. Wo klar gesagt wird: Das ist der Rahmen, innerhalb dessen Einwanderung stattfinden muß. Wenn wir das nicht als politisches Projekt verstehen und weniger als moralisches, wie es bisher verstanden wurde, wird uns das nicht weiterbringen.

Claus Leggewie: Ich bin zwar ein wenig skeptischer, weil die Widerstände in der deutschen Politik groß sind. Aber ich werde mich nicht beirren lassen. Ich werde unseren linken Freunden, die uns immer sagen, ihr seid Anwälte der Ethnisierung von sozialen Konflikten, entgegnen, ethnische Gemeinschaften kann man so und so besetzen. Sie sind nicht per se eine explosive Ressource. Diese ständigen Schreckensbilder, die die Linke immer aufgreift und aufbaut – von Sarajevo bis Los Angeles über Rostock –, um zu sagen, Multikulturalismus funktioniert nicht, sind vollkommen kontraproduktiv. Sie entspringen einer vollkommen starren linken Weltsicht, in der alles von Klassenkämpfen bewegt wird. Das ist einfach nicht wahr. Es gibt die kulturanthropologische Dimension, und man kann sie nicht so mir nichts, dir nichts durch eine oberflächliche Ideologiekritik wegbürsten.

Wir haben um so mehr Chancen, je stärker sich in Deutschland so etwas wie eine Reformbewegung herausbildet. Aber, wo ist sie? Leider nirgends. Bisher ist sie weder auf der Ebene der rot-grünen Politik vorhanden, noch ist jemand da, der das gesellschaftsübergreifende, multikulturell orientierte Reformprojekt 94 anschiebt. Die Mäkelei von vielen Linken ist dabei nicht gerade hilfreich.

Eine durchsetzungsfähige geistige Instanz, die den Multikulturgedanken voranbringt, fehlt in Deutschland.

Daniel Cohn-Bendit: Stimmt, diese Instanzen auf der Linken haben das Zeitliche gesegnet. Die großen linken Köpfe, von denen es heute wenig genug gibt, haben versagt. Punktum. Aufgrund der unerträglichen Inzucht-Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit.

Claus Leggewie: Unsere Position, merke ich wieder einmal, ist eine Position der Mitte – ich meine das keineswegs ironisch –, mit der berühmte Vordenker wie Habermas nichts anfangen können. Multikulturalismus ist – so nüchtern, wie wir ihn formulieren – keine Position, mit der man sich, der alten intellektuellen Pose folgend, außerhalb dieser Gesellschaft stellen kann.

Dann kommt selbstkritisch hinzu: Keiner studiert diese Position wirklich empirisch, keiner macht sich über den Begriff seriös Gedanken, wie das Charles Taylor in Kanada tut, wie es viele Sozialwissenschaftler und Philosophen in Australien getan haben. Das ist ein Fehler auch von Leuten wie mir, daß sie diesen Begriff über die Maßen politisiert haben, daß sie ihn zu schnell in die politische Debatte geworfen haben. Der Begriff muß anspruchsvoller gemacht werden: Er wird ja teilweise so gehandelt wie ein Kirchentagsmotto, mit dem jeder sein Spielchen treiben kann.

Wünschen Sie sich den zweifelhaften Erfolg, der dem Ökologiebegriff zuteil wurde?

Claus Leggewie: Ich sehe es genau andersherum. Das, was Sie als Negativum unterstellen, daß der Ökologiebegriff praktisch von allen Seiten vereinnahmt und instrumentalisiert wird und wurde, wollen wir auch für den Multikulturbegriff erreichen. Weil wir glauben, daß das auf jeden Fall ein Erfolg ist, kein Mißerfolg. Wenn es möglich wäre, den Multikulturbegriff von links und rechts, von oben und unten, von Unternehmen und Arbeitern zu einem allgemein gebräuchlichen und verinnerlichten Begriff zu machen, dann haben wir gewonnen.

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