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Wer Geld hat, besäuft sich

600 Kriegsflüchtlinge aus dem bosnischen Mostar stecken auf der kroatischen Touristeninsel Obonjan fest / Verlassen kann die zwei Quadratkilometer nur, wer ausreichend Deutsche Mark hat  ■ Von Matthias Thieme

Schritt für Schritt rücken die Wartenden nach. Die Reihe von Menschen zieht sich durch den ganzen Raum und endet erst an der Eingangstür. Geduldig stellen sich alle an. Vorne gibt es für jeden einen Teller Bohnensuppe und ein Stück altes Weißbrot: Mittagessen auf Obonjan. Das „Restaurant“, wie der Ort der Essensausgabe auch jetzt noch in höflicher Übertreibung genannt wird, befindet sich am höchsten Punkt der kroatischen Adriainsel. Durch die großen Fensterscheiben des Gebäudes sieht man aufs offene Meer hinaus. Auf der anderen Seite eine endlose Kette kleiner, von tiefblauem Wasser umspülter Inseln.

600 bosnische Flüchtlinge leben zur Zeit auf Obonjan. Vor ein paar Monaten waren es noch über tausend, die in Zelten auf den zwei Quadratkilometern Insel nahe der kroatischen Küstenstadt Šibenik untergebracht waren. Die meisten kamen aus Mostar und haben das Flüchtlingslager inzwischen wieder verlassen. Jetzt sind sie über den halben Globus verstreut, von Amerika bis Pakistan. Die auf Obonjan Verbliebenen wohnen in ursprünglich für Urlauber errichteten Flachbauten auf der ganzen Insel, teilen sich zu acht ein Zimmer.

Goram ist fünfundvierzig und war vor dem Krieg Geschäftsleiter einer Transportfirma. Als Muslim hat er ein Jahr lang in der kroatischen Armee gegen die Serben gekämpft. Als der Konflikt zwischen Kroaten und Bosniern eskalierte, kehrte er nach Bosnien zurück und wurde bald darauf von Serben aus seinem Wohnort vertrieben. Auf Obonjan wohnt er mit seiner Frau und seinem 14jährigen Sohn in einem Zelt. „Du kannst nichts tun hier“, sagt er schulterzuckend, „das ist das Bedrückende. Ich stehe jeden Morgen um sechs Uhr auf, weil ich das gewöhnt war, als ich gearbeitet habe, aber hier gibt es nichts zu tun.“

Wie alle anderen auf Obonjan versucht Goram über Bekannte, Verwandte und Freunde im Ausland ein Einladungsschreiben zu bekommen. Zurück nach Bosnien kann er nicht. In Kroatien traut er sich nicht einmal, am Kiosk eine bosnische Zeitung zu kaufen. Es ist nicht gut, sich als Bosnier zu erkennen zu geben. Ins Ausland kommt man aber nur mit Einladungsschreiben. Wer diesen ersehnten Brief bekommt, muß zuerst nach Zagreb fahren und sich ein Visum ausstellen lassen. Fehlt ein Dokument, ist eine zweite Fahrt nötig. Das kostet Geld, möglichst aber nicht kroatische Dinar, die immer weniger wert sind. Wer keine D-Mark hat, bleibt auf Obonjan.

Dort gibt es zwar nur eine Dusche, aber mit einer Ambulanz, einer Schule und dem „Restaurant“ sind die Flüchtlinge auch über das nur lebensnotwendige Maß hinaus versorgt. Zwar sind andere besser untergebracht, wohnen in zu Flüchtlingslagern umfunktionierten Hotels an der kroatischen Küste. Doch Obonjan gehört nicht zu den schlechten Aufenthaltsorten. Allein die Existenz einer Schule stellt einen unschätzbaren Wert dar.

Die Menschen auf der Adriainsel leiden wegen der zahlreichen Hilfslieferungen mehr an ihrem tragischen Schicksal und ihrer ausweglosen Situation als an Hunger, Medikamentenmangel oder Kälte. Verglichen mit anderen Orten, lebt man hier in Sicherheit, auch wenn Šibenik manchmal beschossen wird. Trotzdem trägt Obonjan für die zum Teil von Eltern und Geschwistern getrennten Jugendlichen und für die zum Nichtstun verurteilten Männer mehr die Züge eines Gefängnisses als die einer Ferieninsel.

Ein neues Café wird gebaut. Arbeit für einige. Alim, ein 20jähriger Schreiner, arbeitet täglich an der Holzverkleidung des Innenraums. Sein Lohn: „Manchmal eine Schachtel Zigaretten.“ Solange das gute Herbstwetter hielt, baute eine Gruppe von Männern die überflüssigen Zelte ab. „16 Stunden arbeiten – eine Konserve“, schrieb einer auf einen Zettel und hielt ihn dem ausländischen Besucher unter die Nase.

Auch angemessener Lohn, schönes Wetter und genug zu essen würden den Mann, der im Konzentrationslager saß und von Folterungen mit Elektroschocks erzählt, höchstens seine körperlichen Narben vergessen lassen. Und auch die nützlichste Hilfslieferung hat keine Kartons mit Vätern, Ehemännern und Brüdern dabei. Selbst Schokolade ersetzt kein Heimatdorf. Deshalb lesen manche die Aufschrift „Humanitäre Hilfe“ inzwischen mit einem etwas bitteren Gesichtsausdruck oder, wie eine Frau, mit trotzigem Spott: „Die sollten uns lieber Kondome schicken, dann könnten wir wenigstens ein bißchen Spaß haben.“ Die Resignation steht vielen ins Gesicht geschrieben. Vor allem alleinstehende alte Männer leben in völliger Perspektivlosigkeit. Ihre Aussichten, ein Einladungsschreiben zu bekommen, sind gering. „Und wenn – was soll ein alter bosnischer Landwirt in Amerika anfangen?“ sagt ein kroatischer Mitarbeiter der UNHCR hilflos. „Ich versuche, denen nichts vorzumachen, auch wenn es für sie hart ist.“

Schon am frühen Nachmittag schaffen ein paar den Weg zum „Restaurant“ nicht mehr. Wer Geld hat, besäuft sich. „Heil Hitler!“ grüßen vor allem junge Bosnier auf Obonjan den deutschen und den holländischen Besucher gleichermaßen. Auf die Erklärung, daß der hier mit verhaltenem Grinsen und als Witz dahergesagte Gruß neuester grausamer Ausschreitungen wegen alles andere als spaßig ist, meint eine 15jährige aus Sarajevo plötzlich ernst: „Ihr hattet nur einen Hitler, wir haben viele.“ „Heil Hitler!“ ergänzt ihre Freundin, lachend lehnen sie sich aneinander. Das eigene Schicksal scheint zu schlimm zu sein, um zu differenzieren.

„Blablabla!“ ruft am nächsten Tag der Mann mit dem weißen Gesicht und der bunten Zipfelmütze, nachdem er schon unzählige Male in der weiten Latzhose über seine eigenen Füße gefallen ist. „Blablabla!“ antworten ihm die zahlreichen auf den Stufen sitzenden Kinder im Chor. Ein irischer Clown ist für einen Tag nach Obonjan gekommen und begeistert die Kinder in dem etwas abgelegenen Amphitheater der Insel. Jetzt, wo alle gebannt auf den einradfahrenden Mann blicken, hören eine Weile auch die plötzlichen Wutausbrüche einiger Jungen auf. Es ist wohl die Ablenkung von den Gedanken an die vermißten Väter, die die sonst im gegenseitigen Umgang sehr aggressiven Kinder in der Spannung des Augenblicks eint.

Beim „Restaurant“ spielt eine Gruppe von Kindern mit Ton, bei ihnen sitzt Alice, eine junge Amerikanerin mit pädagogischer Ausbildung, die seit einigen Wochen auf Obonjan lebt. Auf freiwilliger Basis versucht sie, für die Kinder dazusein, indem sie mit ihnen spielt. Mit sichtlichem Vergnügen an der Matsche sitzen die 5- bis 12jährigen eifrig knetend in der Sonne. Panzer und Friedhöfe werden geformt, auch wenn der bosnischen Sprache unkundige Betrachter bereit gewesen wären, Autos und Gärten zu sehen.

Für 70 Männer ist Obonjan ein echtes Gefängnis. Sie wurden von der kroatischen Polizei auf die Insel gebracht. Im Gegensatz zu den Flüchtlingen dürfen sie das Eiland nicht verlassen. Sie sind in mehreren Baracken untergebracht, werden morgens und abends von der Polizei gezählt und wissen nicht, wie lange sie auf Obonjan bleiben müssen. Mindestens fünf von ihnen sind nach eigener Aussage nur deshalb als Gefangene auf Obonjan, weil sie als Bosnier in Kroatien gearbeitet haben. Sie müssen aber mit den restlichen, deutlich älteren Männern, von denen einige „normale“ Kriminelle zu sein scheinen, in den selben Baracken hausen. Eine nächtliche Messerstecherei, nach der sechs Albaner ins Krankenhaus nach Šibenik gebracht werden müssen, bedroht so auch die jungen Bosnier.

Mišo berichtet geschockt: „Bis vor ein paar Tagen habe ich einigermaßen normal gelebt. Dann kam die Polizei und hat mich abgeholt. Dabei habe ich nicht einmal in Kroatien gearbeitet, sondern nur dort gewohnt!“ Nachdem ihm selbst die Richterin gesagt habe, er hätte sich nichts zuschulden kommen lassen, sei er ins Gefängnis nach Split und dann nach Obonjan gebracht worden. „Und jetzt diese Messerstecherei – es ist wie ein böser Traum“, sagt er benommen.

Wie ein großes Schiff liegt die Insel Obonjan im Meer. Die regnerischen und stürmischen Tage haben längst begonnen. Lange kommte kein Boot, Wasser und Vorräte werden knapp, und für viele geht der Weg zur täglichen Bohnensuppe mit dem einzigen paar Schuhe durch den Schlamm. „Schau mich an“, sagt Goram, „ich hatte vieles, was ihr auch habt. Ex- Jugoslawien war nicht die Sowjetunion. Man konnte durch Arbeit zu Wohlstand kommen. Jetzt habe ich nur noch diese Kleider, aber ich fange wieder von vorne an. Ich muß – wegen meinem Sohn.“ Bloß wo?

Warten. Hinten anstellen. Abendessen auf Obonjan. Ein alter Mann schlurft an den Wartenden vorbei und drängt sich vorne in die Reihe. Keiner weist ihn zurecht, während er seine Suppe bekommt. Er setzt sich an einen der Tische und beginnt zu essen. Damals sei er von einem Tag auf den anderen berühmt geworden, erzählt man sich auf Obonjan. Ein junger Pilot sei er gewesen, damals. Und unter der großen alten Steinbrücke in Mostar sei er aus Freude über das Kriegsende einfach durchgeflogen. Draußen wird es dunkel, die Nächte werden von Mal zu Mal kälter. Fast scheint es, als trotze das vom Atem Hunderter gewärmte, hell erleuchtete „Restaurant“ der anrückenden Finsternis.

Dann wird das Licht ausgeschaltet, die Flüchtlinge verteilen sich wieder über die Insel, gehen zurück in die Häuser, Baracken und Zelte. Morgen ruft vielleicht jemand an, oder es kommt vielleicht ein Rotkreuzbrief mit einer Nachricht von den Eltern aus Sarajevo. Und vielleicht kommt endlich das Einladungsschreiben nach Schweden, oder Amerika, oder Italien, oder Deutschland. Denn die Rückkehr nach Bosnien ist unmöglich, und in Mostar gibt es schon seit ein paar Monaten keine Brücke mehr, unter der man bei Kriegsende durchfliegen könnte.

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