Tradition und moderner Zerfall

■ In Chiapas leben noch 300 Lacadoner, Nachfahren der Mayas

Naja (taz) – Aus dem Siedlungsgebiet der Lacadon-Indianer in der mexikanischen Provinz Chiapas schreibt der Ethnologe Jacques Soustelle: „Die Lage ist katastrophal. Jedes Jahr rücken mehr Menschen in den Urwald vor. Einige kleine Gruppen Ureinwohner haben sich vor der Invasion zum Mtsaboc-See verzogen, andere, in Naja, leisten Widerstand, wieder andere sind ausgelöscht worden. Es scheint, daß diese Kultur im Begriff ist, auseinanderzufallen.“

Der Bericht stammt aus dem Jahr 1967. Das Dorf Naja, von dem er spricht, liegt vier Autostunden vom zur Zeit umkämpften Ort Ocosingo entfernt. Hundert Kilometer sind es bis zur Grenze nach Guatemala. Nur 300 Lacandoner leben heute noch, auf einem Regenwaldgebiet von 9.000 Quadratkilometern. Anders als ihre Nachbarn, die christianisierten Tzeltals, haben sie sich nicht in die Mischlingsgesellschaft eingefügt. Die lokale Macht liegt beim traditionellen Chef, der auch Steuern eintreibt. Es gibt keine Polizei und keine Schule.

Die Lacandoner lebten bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts völlig isoliert und eng mit der Maya-Kultur verbunden. Holzfäller nahmen die ersten Kontakte auf und brachten ihnen Spanisch bei. „Vor zwölf Jahren entdeckte ich die Ruinen von Yaxchilan“, berichtete der Forschungsreisende Désiré Charnay 1880. „Damals hielten die Lacandoner sie noch in großer Verehrung; es gab eine Wache, und jedes Jahr wurden Feste gefeiert. Sie wandten sich gegen eine Untersuchung der Paläste und Tempel, aber als eine von ihnen verehrte Statue hinunterfiel, verließen sie den Palast.“

Noch in den 60er Jahren war es äußerst schwierig, in diesen entlegenen Wald zu gelangen. Nun ist eine Straße gebaut worden, es gibt Fernsehen und Radio. Die Lacandoner wollen sich nicht mehr von Mexiko abgrenzen. Sie versuchen, die Utensilien der Moderne als Ergänzung ihrer Kultur, nicht als Ersatz, zu übernehmen: In ihren Küchen findet man kein Plastikgeschirr; die Wohnungsausstattung hat sich kaum verändert. Die Kinder gehen nicht zur staatlichen Schule, sondern lernen das traditionelle Wissen. Sie heißen Tchank'in, K'ayoum oder Nouchi – reine Maya-Vornamen.

Früher waren die Lacandoner in Klans organisiert, die Tiernamen trugen. Tiernamen sind noch immer als Nachnamen gebräuchlich. Die Klandörfer haben sich vermischt – eine Folge von Wanderungen. Die Dörfer sind voneinander durch mehrere Tagesreisen getrennt.

Noch sind die traditionellen Strukturen sichtbar. In Naja steht statt einer Kirche ein polytheistischer „Tempel“, eine lange, mit Palmblättern bedeckte Hütte. Der Priester praktiziert Riten mit Maya-Göttern und -Gebräuchen. Die Kinder helfen ihren Eltern beim Anbau von Mais und Tabak. Anders sieht es im Dorf Metsaboc aus, das als Ursprungsdorf der Lacandoner gilt. Überall liegt Müll, die Kinder sind zerlumpt, die Männer tragen verdreckte europäische Lumpen und liegen tatenlos in Hängematten. Nur ein älterer Mann arbeitet. Er sagt, das Dorf warte auf seinen Tod, weil der Dorfchef den Ort aus Liebe zu einer Lehrerin von auswärts verlassen habe. Er sei nach vier Monaten gestorben, ohne einen Nachfolger zu hinterlassen. Philippe Le Faure