: 250.000 Afghanen fliehen durch den Schnee
■ Weder Pakistan noch Iran scheinen weitere Flüchtlinge aufnehmen zu wollen
Delhi (taz) – Tausende afghanische Zivilisten sind trotz des strengen Winters einmal mehr auf der Flucht. Die kurze Waffenruhe zwischen den Bürgerkriegsparteien ist seit Montag erneuten Kämpfen in Kabul und im Norden des Landes gewichen. Die Chancen der Flüchtlinge, in Nachbarländern Zuflucht zu finden, sind gering, denn sowohl Pakistan als auch Iran scheinen wenig gewillt, ihre Grenzen weiterhin offenzuhalten.
Die kurze Feuerpause am Wochenende hatte es der Bevölkerung der Hauptstadt Kabul zumindest gestattet, ihre auf über vierhundert geschätzten Opfer zu beerdigen und die Schwerverletzten aus der Gefahrenzone im Stadtzentrum zu evakuieren. Sie ermöglichte es auch den rund zwei Dutzend in Kabul vertretenen Staaten und den Vereinten Nationen, ihr Personal in Konvois nach Pakistan abzuziehen. Gleichzeitig kam es ein weiteres Mal zu einem Exodus der Zivilbevölkerung. Laut UNO- Quellen sollen rund eine Viertelmillion Zivilisten die Hauptstadt in alle Richtungen verlassen haben. Der Hauptstrom bewegte sich nach Osten in Richtung pakistanische Grenze. Vertreter von Hilfsorganisationen und Pakistans versuchen, die Flüchtlinge in der auf der Straße zur pakistanischen Grenze gelegenen Stadt Jalalabad zum Bleiben zu bewegen. Das Flüchtlingswerk der UNO hat dort, im Verein mit dem IKRK und dem Afghanistan-Hilfswerk, ein Lager eingerichtet, das bereits 50.000 Insassen zählt. Weitere 14.000 Flüchtlinge haben inzwischen den Grenzposten Torkham am Khyber-Pass in Richtung Peshawar überschritten.
Die 24stündige Feuerpause ließ sich trotz Bemühungen Pakistans und Irans nicht in einen dauerhaften Waffenstillstand verwandeln. Nach 48 Stunden begannen am Montag erneut Kämpfe, als offenbar Flugzeuge des Usbeken-Generals Raschid Dostam als erste Angriffe auf Ziele in der Hauptstadt flogen. Bald darauf entbrannten im sogenannten Mikrorayon-Quartier heftige Kämpfe. Es handelt sich um einen Fabrik- und Wohnkomplex im Ostteil der Stadt, welcher die Ausfallstraße in Richtung Pakistan beherrscht und vom Zentrum mit dem Präsidentenpalast nur durch den Kabulfluß getrennt ist. Bereits letzte Woche hatten hier die heftigsten Gefechte stattgefunden, da dies die am weitesten vorgeschobene Stellung von Dostams Milizen darstellt, der seit dem 1. Januar versucht, seine bisherigen Verbündeten, den paschtunischen Präsidenten Burhanuddin Rabbani und den tadschikischen Ex-Verteidigungsminister Ahmad Schah Massud aus der Hauptstadt zu vertreiben. Trotz der offenbar koordinierten Luft- und Artillerieangriffe der Truppen Dostams und der Hezbe Islami des Paschtunen Gulbuddin Hekmatjar ist es Rabbani und seinem trotz offiziellen Rücktritts im Amt verbliebenen Feldherrn Massud bisher gelungen, ihre Stellungen im Zentrum und im Norden der Stadt zu halten. Im Norden allerdings scheinen sie gegen den gut gerüsteten Dostam einen schweren Stand zu haben. Pakistan und Iran sind weiterhin bemüht, einen Waffenstillstand zu vermitteln. Der pakistanische Außenminister Assef Ahmed Ali äußerte die Bereitschaft, seine derzeitige Reise durch mehrere zentralasiatische Staaten zu unterbrechen, sollten die Widersacher sein Vermittlungsangebot akzeptieren. Pakistan beherbergt über eineinhalb Millionen Flüchtlinge, deren Zahl mit den neuen Kämpfen statt abzunehmen wieder anzuschwellen droht. Die Regierung in Islamabad ist aber, nicht zuletzt als Folge der zunehmenden Indifferenz der westlichen Länder, offensichtlich nicht mehr gewillt, Pakistans Grenzen für Afghanistan- Flüchtlinge offenzuhalten. Am Dienstag wurde das UNO-Flüchtlingswerk in Islamabad informiert, daß die Grenzübergänge angesichts der steigenden Zahl flüchtender Menschen geschlossen würden. Auch Iran ist, wenn man die Forcierung der Rückkehr afghanischer Flüchtlinge als Indiz nimmt, nicht mehr bereit, die Folgen des Bürgerkriegs im Nachbarland zu tragen. Damit liegt der Schwarze Peter einmal mehr bei der UNO, die nun versuchen muß, im Innern eines instabilen und eingeschneiten Landes, dessen Infrastruktur am Boden liegt, ein Auffangnetz zu errichten. Dies mag im grenznahen Jalalabad noch einigermaßen möglich sein, ist aber im heftig umkämpften Norden des Landes mit enormen logistischen Problemen verbunden. Zu den Zivilisten, die der sich ausweitende Bürgerkrieg erneut aus den Städten treibt, kommen noch rund 25.000 Flüchtlinge aus Tadschikistan, die weiterhin auf die Rückkehr in ihre Heimat warten. Bernhard Imhasly
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen