■ Salvador Castañeda zur Perspektive der Zapatisten: Als langfristiger Volkskrieg angelegt
Salvador Castañeda, 47, ist Direktor des Historischen Forschungszentrums über Bewaffnete Bewegungen“ (CIHMA), das in Mexiko-Stadt 1988 von fünf Ex- Guerilleros zur „analytischen Aufbereitung des Phänomens Guerilla“ in Mexiko und Lateinamerika gegründet wurde; das Zentrum gibt eine Zeitschrift und Schriften zum Thema heraus. Der gelernte Ingenieur, der 1966 die Bewegung der Revolutionären Aktion (MAR) mitbegründet hatte und ab 1971 für sieben Jahre im Gefängnis saß, gilt heute als wichtigster Autor zum mexikanischen Untergrund: er veröffentlichte zwei Romane und ein Gefängnistagebuch.
taz: Ganz Mexiko hofft zur Zeit auf die Beendigung der bewaffneten Auseinandersetzung zwischen Zapatisten und Streitkräften. Wie realistisch ist das?
Castañeda: Was vor einigen Tagen begonnen hat, ist eindeutig als langfristiger Volkskrieg angelegt. Für die EZLN entscheidet sich der Kampf nicht innerhalb von ein paar Monaten, nicht einmal in ein oder mehreren Jahren, auch wenn ein wichtiges Datum natürlich die August-Wahlen sind. Sie hat sich ja schließlich die sozialistische Transformation des Landes vorgenommen. Also müssen sie versuchen, die gegnerische Armee in die Knie zu zwingen. Letztendlich ist es das: ein Krieg zwischen zwei Armeen. Die Zapatisten sind ja kein kleines Grüppchen von ein paar bärtigen Typen, sondern eine richtiggehende Armee. Wichtig ist für sie der Faktor Zeit: das Grundprinzip des verlängerten Volkskrieges ist der Verschleiß des Gegners. Für den Staat dagegen ist es entscheidend, ihre Existenz als potente militärische Organisation zu negieren. Die Angriffe auch auf die Zivilbevölkerung sind schon ein erstes Anzeichen für seine Verzweiflung.
Aber auch die Zapatisten haben ja, den Berichten zufolge, Pressefahrzeuge beschossen.
In einem Krieg greift der Staat auf die verschiedensten Methoden zurück. Woher sollen die Zapatisten, die einen Pressebus über die Straße rollen sehen, wissen, daß es sich wirklich um Journalisten handelt? Es könnten ja auch Soldaten sein. Solange eben kein nach Kriegsrecht vereinbarter Mechanismus existiert, ist so etwas schwer zu vermeiden.
Ihrer Einschätzung nach könnten die Streitkräfte die Guerilla also nicht ohne weiteres niederschlagen?
Ich denke eher nicht. Die zapatistischen Soldaten sind in die Stadt heruntergekommen, und das ist definitiv nicht ihr Aktionsfeld. Aber in den Bergen kennen sie sich aus, da bewegen sie sich wie die Fische im Wasser. Das sind Hunderte von Quadratkilometern, wie soll die Armee sie dort finden können? Selbst mit ihren Bombardements dürfte das schwierig sein.
Wie schätzen Sie die Dialogbereitschaft beider Seiten ein?
Es ist bezeichnend, daß die EZLN trotz allem die Bereitschaft zum Dialog erkennen läßt (siehe taz vom 12.1.). Das wird in der öffentlichen Meinung als Pluspunkt vermerkt, als Zeichen von Flexibilität. Die Bewegung ist keinesfalls völlig starr und verschlossen. Wenn es langfristig einen realen Verhandlungsspielraum gibt, werden sie die Waffen wohl niederlegen. Es ist keine militaristische, sondern eine politisch-militärische Bewegung, die beide Aspekte ziemlich gut auseinanderhalten kann, was zum Beispiel die Forderung nach freien Wahlen zeigt. Sie suchen keine militärische Lösung.
Auf der anderen Seite hat der Staat, als er sein Angebot über die Medien verbreitet hat, die wahren Vorbedingungen dazu verschwiegen – nämlich die bedingungslose Kapitulation der Zapatisten. Und das werden sie nie akzeptieren.
Wie revolutionär ist denn eine so „reformistische“ Forderung nach „demokratischen Wahlen“?
Natürlich handelt es sich letztendlich um eine revolutionäre Bewegung. Dieser aktuelle Schwerpunkt auf den Wahlen hat mit der lateinamerikanischen Erfahrung der letzten Jahrzehnte zu tun. Nur in Ländern mit einer wirklichen Diktatur, wie Kuba und Nicaragua, hat es eine revolutionäre Bewegung geschafft, die Macht zu übernehmen. In einem Land wie Mexiko, wo es zumindest formal freie Wahlen gibt, sind die Möglichkeiten, mit einem bewaffneten Aufstand die Macht übernehmen zu wollen, sehr begrenzt. Die Forderung nach freien Wahlen ist eine der unmittelbaren Forderungen, die dem Wunsch breiter Bevölkerungsschichten entspricht. Wie auch die anderen Forderungen nach Lebensmitteln, Kliniken und Schulen. Langfristig aber geht es natürlich schon um die Machtübernahme.
Kann man also, im Vergleich zu den Bewegungen vor zwanzig Jahren, von einer populistischen Guerillabewegung sprechen?
Es ist auf jeden Fall evident, daß die Zapatistenbewegung eine viel breitere Vision der Bevölkerung hat als wir damals. Unser einziges Ziel war die Machtübernahme, die Zerstörung des Staates und diese ganzen Sachen. Aber wir waren nicht in der Lage, die unmittelbaren Bedürfnisse und Forderungen der Bevölkerung einzubeziehen. Wir hatten im Grunde keine soziale Basis, da wir keine soziale und politische Arbeit mit den Leuten gemacht haben. Es gibt da also einen wichtigen qualitativen Fortschritt.
Wie sehr verankert sind den die Zapatisten in Chiapas? Schließlich berichten auch die kritischen Zeitungen von der Angst der Bevölkerung vor den Guerilleros und von Angriffen auf die Bevölkerung...
Ihre Basis haben sie natürlich eher auf dem Land und in den Bergen als in der Stadt. Auf dem Land aber gibt es eine solche Kampfbereitschaft, daß die Bauern sich sogar mit Holzgewehren der Guerilla anschließen. Da ist eine ungeheure Verzweiflung und das enorme Bedürfnis, dafür zu kämpfen, daß sich die Dinge endlich ändern.
Steht die jetzige EZLN ideologisch und strategisch in der Tradition der siebziger Jahre? Welche Bedeutung hat der Bezug auf Zapata und die mexikanische Revolution?
Die jetzige Guerilla ist keinesfalls ein isoliertes Phänomen, es ist eine Art Sequenz und Konsequenz aus dreizehn Jahren städtischer und Campesino-Guerilla in den sechziger und siebziger Jahren. 1983 entsteht dann, als Produkt dieser Entwicklungen, die Zapatistische Befreiungsarmee, als Bestandteil eines permanenten revolutionären Kampfes. Heute aber hat die Bewegung Ausmaße angenommen, die nichts mehr mit dem zu tun haben, was wir in den Siebzigern gemacht haben. Die Guerilleros eignen sich, wie auch schon vor ihnen andere Bauernorganisationen, symbolisch den Namen von Zapata an, da dieser, selbst stärker als Villa, der wahre Held der mexikanischen Revolution, ist. Zapata hatte sowohl die soziale Repräsentanz wie auch die militärische Kapazität. Er symbolisiert vor allem den indianischen Kampf um das Land: fast alle der Aufständischen heute sind schließlich Bauern.
Wie stark sind Ihrer Meinung nach die sogenannten ausländischen Einflüsse und die direkte Beteiligung von Ausländern an der Aufstandsbewegung? Die Rede ist von Sendero Luminoso gewesen...
Sendero ist was ganz anderes... auch wenn wir sehen, daß sich dieser Kampf unmöglich unabhängig von allem anderen entwickeln kann. Und es ist auch nichts Neues, daß Ausländer an den Kämpfen anderer Völker beteiligt sind. Das disqualifiziert doch keine Bewegung. Im Gegenteil: Es ist eher ein Aspekt der Solidarität.
Trotzdem ist für Sie die EZLN als genuin mexikanische Bewegung entstanden?
Sicher. Jede Bauernguerilla hat ihre Wurzeln in der Aggression der Großgrundbesitzer. Im Fall von Chiapas wissen wir, daß die hacenderos und ganaderos ihre Wehrtrupps geschaffen haben, die jeden verfolgen, der protestiert oder sich zur Verteidigung seiner Rechte organisiert. Die Bauern gründeten also ihre Organisationen zur Selbstverteidigung, aus denen dann die EZLN entstand.
Vielen ist unverständlich, wie die verarmten Bauern an die Ressourcen und Waffen für den Aufstand gelangt sind.
(zuckt die Schultern) Bei dem Waffenhandel in der Zone ist das kein großes Problem.
Und das Geld dafür?
Ich habe versucht, einer Reihe von Überfällen – oder, wie wir es nannten, Enteignungen – in den letzten vier oder fünf Jahren nachzugehen, die bis heute nicht aufgeklärt sind. Ein wichtiger Teil des Geldes kommt möglicherweise aus dieser Quelle. Außerdem hat es eine Reihe von Entführungen gegeben ... („Proceso“ berichtete, daß in der Region in den letzten zwei Jahren mindestens 20 Menschen entführt und 40 Millionen Pesos – 23 Millionen Mark – Lösegeld gezahlt wurden).
Was wäre für Sie das schlimmste Szenario in der gegenwärtigen Situation?
Eine militärische Lösung und die Hexenjagd auf alle politischen Organisationen in der Region. Wir dürfen nicht vergessen, daß das alles zur counter-insurgency gehört. Und das Militär bereitet propagandistisch eine solche Operation schon vor: ausländische Beteiligung, Waffen- und Drogenhandel. Das wäre dann die Rechtfertigung... Wünschenswert wäre, daß es über die konkreten Forderungen sobald wie möglich Verhandlungen gibt. Schließlich sind auch wir vom CIHMA nicht an einer gewaltsamen Entwicklung interessiert; seit Jahren versuchen wir, Alternativen aufzuzeigen.
Für wie wahrscheinlich halten Sie es, daß die Zapatistenarmee eines Tages wirklich vor den Toren der Hauptstadt steht?
(lacht) Das ist so weit weg wie der uns am nächsten stehende Stern. Aber das ist ein wichtiges Element des Kampfes. Wer nicht langfristig denkt, ist schon verloren. Interview: Anne Huffschmid
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