: Im Dickicht der Stäbe
Er war Choreograph der Bat-Sheva-Dance-Company, Solist in Bremen und leitete seit 1988 Dance Berlin. Jetzt präsentierte Joseph Tmim seine neue Gruppe Toladà Dance Company im Theater am Halleschen Ufer ■ Von Michaela Schlagenwerth
Nicht erst seit Shakespeares „Sommernachtstraum“ ist der Wald ein Ort außerhalb der Zivilisation. Verfolgten und Ausgestoßenen, Räubern, Irren und wilden Männern bietet er ein dunkles Obdach, und in den Wald verschlagene Liebende, so lehren die Geschichten immer wieder, werden in einen Zustand der Einsamkeit versetzt. Und statt mit sinnlichen Wohltaten werden die Paare mit einer gewalttätigen, tierischen Sexualität konfrontiert.
In „Le Vent“, einem Tanzstück, das am Mittwoch im Theater am Halleschen Ufer Premiere hatte, hat der Choreograph Joseph Tmim seine TänzerInnen in solch einen Wald geschickt. Vom Schnürboden hängen dicht an dicht Eisenstangen herab und lassen kaum Platz für die menschlichen Körper. Wer diesen futuristisch-kalten Ort betritt, scheint seiner menschlichen Seele beraubt: Die TänzerInnen fassen sich an die linke Brust und quetschen und pumpen, als ob sie den letzten Blutstropfen aus ihrem Herzen pressen wollten. Bewegungen werden nur auf Kommando in Gang gesetzt und die zunächst dicht gedrängte Gruppe verliert sich im Dickicht der Stäbe.
Eine Hatz beginnt, in der die Frauen der Begierde der Männer ausgesetzt sind: Wie Frösche zucken sie in Männerhänden, lassen sich von ihnen als erstarrte Leichen durch den Raum tragen, werden freigegeben und wieder eingefangen. Ein Spiel, in dem sich die Geschlechter in die totale, gegenseitige Erschöpfung treiben – ein tödliches Hase- und Igel-Spiel, in dem die Schwächeren die Sieger bleiben. Eine wilde Traumlandschaft haben die Bühnenbildnerin Cecilie Bouchier und der Lichtregisseur Fred Pommerehn auf die Bühne gezaubert, durch die die TänzerInnen dem mörderischen Ende entgegentanzen.
Mit „Le Vent“ ist Joseph Tmim und der „Toladà Dance Company“ ein Wurf gelungen, der wohl nicht nur bei der kleinen Berliner Tanzgemeinde auf Interesse stoßen wird. Nach der plötzlichen Trennung von Leonore Ickstadt und der Auflösung der gemeinsamen, erfolgreichen Gruppe Dance Berlin hat Tmim binnen vier Monaten eine Kompanie von erstaunlicher Qualität aufgebaut. Eine international gemischte Gruppe von drei Tänzerinnen und drei Tänzern, in der nur der Grieche Dimitri Tsiapkins den Wandel überdauert hat.
Seit der letzten Produktion, die auch um das Thema Macht kreiste, hat der Choreograph einen entscheidenden Schritt nach vorne getan: Aus der Berliner Tanzlandschaft ragte er mit seiner phantasievollen, komplexen Bewegungssprache schon immer heraus, doch war er zu sehr in seinen verschraubten Gedankenlabyrinthen gefangen, und es erging ihm nicht anders als beispielsweise den deutschen Autorenfilmern: Es gab nicht allzu viele, die sich dafür begeistern konnten.
Nun hat er doch ein Stück herausgebracht, das auf Bühnenwirksamkeit angelegt ist. Ein poetisches und grausames Märchen, das den sexuellen Obsessionen freien Lauf läßt und sie exzessiv in Szene setzt. So energiegeladen, daß die Tänzer im zweiten Teil manchmal der völligen Erschöpfung anheimzufallen scheinen. Der zweite Teil des Tanzstücks mag an den ersten nicht heranreichen, die szenische Phantasie manchmal erlahmen, dennoch ist der Abend von einer Entfesselung aller Kräfte durchdrungen, die bis in die letzte Minute trägt.
Der Choreograph greift zurück auf altbewährte Mittel. Solch ein Stangenwald steht nicht das erste Mal auf der Bühne, und das gekonnte Verweisen auf Mythen, der rituelle Umgang mit den vier Elementen (die Frauen benetzten sich mit Wasser, die Männer entzünden Kerzen, ein Tänzer streut sich Sand in die Augen, so daß sie ihm blutig aus dem Kopf herauszuspringen scheinen, und mit ihrem Atem setzen die TänzerInnen sich selbst und den Stangenwald in Bewegung) läuft schnell Gefahr, in abgedroschenen Klischees zu versickern.
Doch Tmim gelingt eine bannende Abgründigkeit, die die aufgeladenen Metaphern nicht mit Aha-Effekten des Altbekannten zuschüttet, sondern ein weites Feld an Assoziationen freisetzt. Mag „Le Vent“ auch nicht der Kunst letzter Schluß sein, hier werden innerhalb der Berliner Tanzlandschaft neue Maßstäbe gesetzt.
Toladà Dance Company: „Le Vent“. Choreographie: Joseph Tmim. Täglich außer Montag bis zum 22.1., 20 Uhr im Theater am Halleschen Ufer, Hallesches Ufer 32, Kreuzberg.
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