piwik no script img

Vizepremier Jegor Gaidar kündigt Rücktritt an

■ Der Architekt der russischen Reformpolitik kritisiert die jüngste Entscheidung Präsident Jelzins: Für den Bau eines neuen Parlamentsgebäudes sei kein Geld da

Moskau (taz) – Der stellvertretende Premierminister Rußlands und maßgebliche Architekt der wirtschaftlichen Reformpolitik, Jegor Gaidar, kündigte gestern an, er werde der neuen Regierung nicht mehr zur Verfügung stehen. Die Kabinettsneubildung durch Premierminister Tschernomyrdin wird für heute nachmittag erwartet. Seit längerem kursieren Mutmaßungen in Moskau, dem neuen Regierungsteam könnten erheblich weniger reformorientierte Kräfte angehören. Premier Tschernomyrdin versuchte hingegen, derartige Befürchtungen zu zerstreuen.

Gaidar begründete seinen Entschluß mit Maßnahmen, die die Regierung in den letzten Tagen ohne seine Zustimmung getroffen hatte. Präsident Jelzin hatte per Dekret 500 Millionen US-Dollar für den Bau eines neuen Parlamentsgebäudes bewilligt. Er war von Gegnern und Sympathisanten gleichermaßen kritisiert worden, der Legislative kein repräsentatives Gebäude zur Verfügung gestellt zu haben. Gaidar: „Wir sind nicht so reich, daß wir den Wohlstand der Bürger der politischen Konjunktur opfern könnten.“

Eine Finanzvereinbarung mit dem Nachbarstaat Weißrußland über eine gemeinsame Rubelzone fand ebenfalls Gaidars Mißbilligung. Die Übereinkunft lasse sich nicht von wirtschaftlichen Erwägungen leiten. Sie folge dem Bedürfnis derjenigen, die den Einfluß Rußlands auf die ehemaligen Satelliten zur höchsten Staatsmaxime erheben. Die Vereinbarung sei „ein Chaos im Geldbereich auf Kosten der realen Einkünfte der Bürger Rußlands“, so Gaidar. Er könne daher nicht gleichzeitig dem Kabinett angehören und sich in Opposition befinden.

Ganz überzeugend klingen Gaidars Beweggründe nicht. Anzunehmen ist daher, daß die zu erwartenden Kurskorrekturen schwerwiegender sein werden, als er bisher prognostiziert hatte. In seiner sogenannten Schocktherapie genoß die Konsolidierung der Staatsfinanzen Priorität. Die relative Stabilität des Rubels und der Rückgang der Inflationsrate waren erste Genesungsanzeichen. Die neue Mannschaft wird die Akzente eher auf die künstliche Beatmung nicht lebensfähiger Betriebe legen. So kündigte es zumindest Grigorij Jawlinskij während des Wahlkampfes an, der Vorsitzende des Blockes „Jabloko“. Er gilt als möglicher Nachfolger Gaidars. Auch er steht für Reformen, nur schmerzlos sollen sie sein. Gaidar soll die Kandidatur Jawlinskijs dennoch begrüßt haben. Jelzins Pressesprecher hoffte dagegen, der Präsident möge das Rücktrittsgesuch nicht annehmen. Kompromisse hielt er noch für möglich. Klaus-Helge Donath

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen