: Unter ein steinernes Mikroskop gelegt
■ Vielfältig: Die Kestner-Gesellschaft Hannover zeigt Picassos Steindrucke
„Gott ist auch nichts anderes als ein Künstler. Er erfand Giraffe, Elefant und Katze. Genau genommen hat er keinen Stil. Er versucht immer neue Dinge.“
Pablo Picasso
Statt der kleinen Gotteskritik könnte als Ausstellungsmotto ebenfalls gelten, was der Kunsthistoriker Carl Einstein schon 1926 hellsichtig – und atemlos gegen eine Flut von Vorurteilen anschreibend – über den 1881 geborenen Pablo Ruiz Picasso zu sagen wußte. „Einer, der das Unzulängliche jeder Form, sie lebt von der Beschränktheit, versteht“, schreibt Einstein. „Picasso kennt die Möglichkeiten vielfacher Lösungen: fast möchte man sagen, er ironisiert immer wieder angeblich endgültige Lösungen: Es lockt ihn, ironisch erfindend zu zeigen, wie begrenzt jede Lösung ist und wie sie trotz aller Totalität selbst auf weitere Bildung – ja, ihren Gegensatz – verweist. Ironisches Drama, da Formen, von erfinderischem Geist geprüft, ihr Fragmenthaftes eingestehen und, schmerzhaft rasch erledigt, ihrer selbst spotten.“
Dieses Gefühl für die Beschränktheit jeder Form und die Möglichkeiten, die in den vielfachen Lösungen liegen, offenbart sich in der Gesamtheit des Oeuvre ebenso unmittelbar wie in der Bildauswahl der Hannoveraner Ausstellung. Picasso wandelte stetig seinen Stil, während er durch seine unterschiedlichen Werkperioden stürmte: die blaue und rosa Periode; dann die Erfindung des Kubismus zusammen mit Braque – konsequent wird am Anfang dieses Jahrhunderts nicht das Darzustellende, sondern werden die Modi des Darstellens thematisiert.
Es folgt sein monumentaler Klassizismus, der Ausflug in die Gefilde des Surrealen, die Periode konsequenter Abstraktion und die Rückkehr zur Figuration. Schließlich die furios expressive Malerei des Alterswerks, die einer ganzen Generation „wilder“ Maler legitimes Vorbild ist und die Reanimation einer für tot erklärten Materie zur Folge hat. Darüber hinaus das Ausprobieren ständig neuer Medien: Malerei und Skulptur, Zeichnung und Graphik, Wand- und Bühnenbild, Keramik und Relief etc., etc.
Was in der Werkübersicht deutlich wird, erscheint in den Arbeiten auf Stein wie unter dem Mikroskop. Das erklärt sich aus den Möglichkeiten des Mediums und der Art, wie Picasso sie nutzte. Auf Stein kann der Künstler arbeiten wie auf Papier. Mit weichem, tontragendem Kreidestrich, mit hartem Rohrfederzug oder vollem, schleppendem Pinsel. Dabei erlaubt der Flachdruck des Steins oder wahlweise der Zinkplatte nachträgliche Korrekturen durch Abwischen, Abschleifen, Abschaben und Herauskratzen. Mit all diesen Möglichkeiten vermag Picasso ein und dieselbe Idee vom Bild immer wieder zu variieren und zu neuen Modifikationen und Metamorphosen zu treiben. Er schreibt dazu: „Früher näherten sich die Bilder ihrer Vollendung stufenweise. Jeder Tag fügte etwas Neues hinzu. Ein Bild war das Ergebnis von Additionen. Bei mir ist das Bild das Ergebnis von Zerstörungen. Ich mache das Bild, und dann zerstöre ich es. Aber am Schluß der Rechnung ist nichts verlorengegangen. Das Rot, das ich an einer Stelle weggenommen habe, befindet sich anderswo.“
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Der enge Zusammenhang von Zerstörung und Kreativität wird anhand der als Abfolge verschiedener Zustände verfertigten Drucke im einzelnen nachvollziehbar. Dabei relativiert der Künstler auch den Mythos des einen und endgültigen Bildes, dem Bild aller Bilder als der Summe malerischer Erfahrung. Picasso ist beim Spiel der Variationen nicht auf der Suche nach dem Bild, das allen Bildern überlegen wäre. Alle verschiedenen Zustände stehen in ihrer phänomenalen Ausdruckskraft gleichberechtigt nebeneinander. Es gibt keine Hierarchie.
Nehmen wir die berühmte Serie des Stiers in elf Zuständen von 1945. Picasso beginnt mit einem impressionistisch gestimmten Bild in weichen, lavierenden Grautönen. Diesem Bild folgt ein zweites, das sich wie jedes folgende aus dem vorangehenden entwickelt. Picasso arbeitet von Stufe zu Stufe auf demselben Stein die gedrungene, kraftvolle Physiognomie des Stiers in spannungsgeladenem Schwarzweiß-Kontrast vollplastisch heraus. Im dritten Zustand sorgen bereits zusätzliche feine, ziselierende Lineaturen für ein emblematisches Bild undomestizierter Wildheit. Danach geht Picasso, sich selbst zitierend, den geometrischen Weg zum analytischen Kubismus, um am Ende in abstrakt linearer Auflösung die Essenz des Stierseins als reine Umrißzeichnung zu evozieren.
Groß die stilistische Vielfalt, eher klein der thematische Kanon des Künstlers: immer wieder Maler und Modell, Stilleben, Selbstportraits, das Personal der Tauromaquia, dionysische Landschaften mit Faunen, Bacchantinnen und Kentauren und immer wieder die Bilder der Frauen, deren erotische Ausstrahlungskraft zeitlebens in seine Kunst einfloß. Als er 62jährig Francoise Gilot, die junge, selbstbewußte Jurastudentin, kennenlernt, sieht sein Auge den Himmel offen. Mit seiner neuen Liebe reimt sich für ihn Wonne auf Sonne, und so malt er sie denn auch als Sonne, als Blume mit demonstrativ naivem Strich in immer neuen Variationen.
Eine weitere Werkgruppe sind Picassos Paraphrasen alter Meister – Velazquez, Goya, Manet, Poussin und auf Stein vor allem Cranach. Cranach lernte er durch Postkarten kennen, die ihm Kahnweiler aus Deutschland mitbrachte und nach denen er arbeitete. Denn Picasso wußte um die Gefahr, welche sich mit der Autonomie von Künstler und Kunstwerk in diesem Jahrhundert verbindet. Was der Künstler an Freiheit gewinnt, verliert er an Setzungskraft. Daher liebte er es, sich hin und wieder einer fremden Ordnung zu unterwerfen – um sich an Maßstäben zu messen, die nicht seine eigenen waren. Das Ergebnis sind nie blasse Plagiate, sondern immer Picassos. Michael Stoeber
„Pablo Picasso: Der artistische Prozeß“. Bis zum 6. Februar 1994 in der Kestner-Gesellschaft Hannover (Verlängerung bis zum 18.2. ist geplant). Der empfehlenswerte Katalog mit vollständigem Werkverzeichnis aller Arbeiten auf Stein in Wort und Bild kostet 48 DM.
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