Sprints im Gericht

Bosnische Sportler, die bei den Olympischen Winterspielen teilnehmen wollen, sitzen in Sarajevo fest  ■ Von John Pomfret

Sarajevo (wps) – Zweimal am Tag trottet Igor Boras im Gebäude des Obersten Gerichtshofes von Bosnien in den zweiten Stock, an klaffenden Löchern von Panzergeschossen vorbei, über Granatsplitter und Patronenhülsen hinweg, in einen Flur voll vom Schutt des Krieges. Dort übt der 25jährige Athlet Sprints, oder „explosions“, wie er sie in seinem abenteuerlichen Englisch nennt. Boras' Schritte werden ihn wahrscheinlich nirgends hinbringen, aber er hat ein Ziel im Kopf: Lillehammer, Norwegen und die Olympischen Winterspiele. Boras ist Bobpilot, einer von einer Handvoll Bosniern, die hoffen, in diesem Jahr bei den Olympischen Spielen antreten zu können. Drei seiner Teamkollegen haben es geschafft, aus Sarajevo hinauszukommen, der letzte vor zehn Tagen, als er sich an Bord eines Flugzeuges schmuggelte, indem er sich als Leibwächter eines bosnischen Politikers ausgab. Boras und sein Teamkamerad Nihad Melmedzija – ein 22jähriger Soldat, Ringer- und Judomeister, der als Bremser des bosnischen Bobs fungiert – sitzen hier fest. Ihre Chancen, rauszukommen, tendieren gen null.

Bosniens Olympiasportler sind politische Symbole im Kampf für die Identität dieses Landes. Ihre Anstrengungen, im Namen von Bosnien anzutreten, spiegeln die Tatsache wider, daß nach 21 Monaten eines bedrückenden Krieges, der hier viele Ideen von Einheit und Koexistenz zertrümmert hat, immer noch ein bosnischer Patriotismus in Sarajevo blüht.

Boras riskierte im letzten Jahr sein Leben, um einen Bob-Wettkampf für Bosnien zu bestreiten. Im Januar 1993 krochen er und der Mannschaftscoach Zdravko Stojnic durch den Belagerungsring um Sarajevo, indem sie eine Meile Niemandsland an der Landebahn des Flughafens durchquerten, an bewaffneten Serben und an UN- Wachen vorbei, in die Sicherheit eines anderen Sektors, der von der moslemischen Regierung gehalten wurde. Schwer belastet mit Kleidung und Ausrüstung, wanderten und trampten die zwei Männer bei frostigen Temperaturen zwei Tage lang durch Zentralbosnien, bis sie den kroatischen Hafen Split erreichten. Sie flogen nach Innsbruck, wo sie das einzige Team aus Sarajevo bei den Internationalen Bobmeisterschaften bildeten. Mit einem neun Jahre alten Bob, dem etliche Schrauben fehlten und den ihnen das deutschen Olympische Komitee geschenkt hatte, wurden sie 32. von 37 Teams. „Wir waren stolz“, erinnert sich Boras. „Hey, die Tatsache, daß wir überhaupt ankamen, daß wir als Bosnier teilnahmen, war der größte Erfolg.“

Was Boras und Stojnic als nächstes taten, mögen viele Leute für verrückt halten. Sie trampten zurück durch Zentralbosnien, wo der Krieg zwischen Moslems und Kroaten ausgebrochen war, und wieder am Flughafen vorbei, wo sie es wieder mit den serbischen Scharfschützen zu tun bekamen, die jeden Tag ein oder zwei Leute auf der Landebahn erschießen und mit den französischen UN-Wachen, deren Job es ist, jeden, der durch will, zurückzuschicken. „Wo hätten wir sonst hingehen sollen“, fragt Boras. „Das ist die Heimat. Also, was kümmern mich die Scharfschützen und Granaten. Ich habe meine Freundin hier. Meine Mutter.“

Boras' Teamkollege, Melmedzija, wurde durch seine militärischen Pflichten davon abgehalten, den Fluchtweg am Flughafen zu benutzen. Als Boras nach Sarajevo zurückkam, befand sich Melmedzija in einem Krankenhaus, wo er von einer Schrapnellwunde genas, die er im Kampf mit den Serben erlitten hatte.

In diesem Jahr haben die beiden einen weiteren verrückten Vorstoß über den Flughafen erwogen, aber die einstige Allianz zwischen Moslems und Kroaten ist zusammengebrochen, so daß, selbst wenn sie es hinter die serbischen Linien schaffen würden, ihre Passage durch die kroatischen Gebiete nach Split nicht gesichert wäre. Boras, der Kroate ist, fürchtet, daß ihn moslemische Truppen außerhalb Sarajevos nicht passieren ließen.

Melmedzija, der Moslem ist, hat ähnliche Befürchtungen in bezug auf die kroatischen Einheiten im Westen. Die Männer haben die Vereinten Nationen darum gebeten, sie mit den Versorgungsmaschinen, die leer nach Italien, Kroatien und Deutschland zurückkehren, auszufliegen. Aber die UN-Offiziellen weigern sich. Wegen der UN-Rücksichtnahme auf die serbischen Belagerer können nur Zivilisten mit spezieller Genehmigung, wie bosnische Politiker, aus Sarajevo ausfliegen.

Bosniens Serben haben versucht, das Land zu hindern, ein Team zu den Olympischen Spielen zu schicken, weil sie glauben, daß die Teilnahme der Athleten dazu beitragen würde, die internationale Anerkennung Bosniens zu fördern, die die Serben demontieren wollen. Doch trotz der Hindernisse werden laut Izudin Filipovic, Generalsekretär des Olympischen Komitees von Bosnien, bosnische Athleten beim alpinen und nordischen Skifahren sowie am Bobfahren und Rodeln teilnehmen.

Aber die Bosnier suchen immer noch nach Hilfe, um einige ihrer Athleten aus Sarajevo herauszubekommen, und haben um die Unterstützung ausländischer Regierungen gebeten. „Das State Department hat uns gesagt, wir sollen uns an europäische Regierungen wenden“, sagt Filipovic. „Die europäischen Regierungen haben uns gesagt, wir sollen warten.“

Filipovic hat es geschafft, viele seiner Athleten aus Bosnien und speziell aus Sarajevo herauszubekommen. Nach einem Programm, das vom Olympischen Komitee der USA gefördert wird, haben die USA 19 junge Basketballspieler und 17 Tennisspieler aufgenommen. 15 Schwimmer, die ebenfalls in die USA sollen, sitzen in Sarajevo und Tuzla fest.

Melmedzija, der Bobfahrer, hockt in einem eisigen Büro in seiner Kaserne und drückt seine Enttäuschung über die Unfähigkeit des Olympischen Komitees aus, ihn hinauszubekommen. „Trotzdem, ich habe noch nicht alle Hoffnung verloren“, sagt er. „Bis Lillehammer sind es immer noch ein paar Wochen.“

(Übersetzung aus dem Englischen: Matti Lieske)