: Wenn Hamburgs industrielles Kartenhaus zusammenbricht
■ Hamburgs Stahl- und Aluminiumwerke stehen vor dem endgültigen Aus / Staatskapitalistische Fehler der 60er und 70er Jahre rächen sich bitter / Natur, Steuerzahler und Industriearbeiter sind angeschmiert Von Florian Marten
Verzweifelt suchen Hamburgs Wirtschaftspolitiker in diesen Tagen nach Hilfe. Die Augen richten sich nach Süden, auf den italienischen Stahlkonzern Riva. Vielleicht, so die klamme Hoffnung, steigen die Italiener bei den total überschuldeten Hamburger Stahlwerken (HSW) ein. Ohne einen erneuten kräftigen Schluck aus der Stadtkasse – im Gespräch sind 40 Millionen Mark – wird sich Riva auf das Abenteuer wohl kaum einlassen. Auf längere Sicht räumen Wirtschaftsexperten den HSW jedoch keine Chancen ein. Die Handicaps bei Löhnen, Umweltauflagen und Energiekosten können durch keine noch so prächtige Produktivität ausgeglichen werden.
Noch schlechter bestellt ist es um die Hamburger Aluminiumwerke (HAW) und das Aluwalzwerk der Firma Reynolds. 1995, wenn die seit 20 Jahren gültigen Stromverträge mit den Hamburgischen Electricitätswerken (HEW) auslaufen, ist es auch endgültig vorbei mit dem Dumpingpreis von 2,8 Pfennig pro Kilowattstunde. Nach Schätzungen aus HEW-Kreisen belaufen sich die Selbstkosten für jede erzeugte Kilowattstunde Strom (KWh) auf rund 10 Pfennig.
Die HEW müssen ihren AKW-Park umstrukturieren
Selbst wenn man die besonderen Bedingungen des Großabnehmers HAW berücksichtigt, müßten schon 7 bis 9 Pfennige je KWh herüberwachsen, wollten die HEW nicht ins Geschäft der Aluminiumsubvention einsteigen. Die bereits seit Monaten laufenden Verhandlungen zwischen HEW und HAW haben sich nach taz-Informationen bei 5,5 Pf/KWh festgefahren: für die HEW viel zu niedrig, für die HAW deutlich zu hoch.
Das HAW-Management jedenfalls verweist gerne auf seine Optionen für eine Verlagerung der Produktion nach Australien, Kanada oder Venezuela, wo Strompreiskonditionen von rund 2 Pfg./KWh winken. Kommt es zu keiner Einigung, macht das Aluwerk unweigerlich dicht. Die IG-Metall, organisatorisch zuständig für HEW und Reynolds, hofft, wenigstens das Walzwerk in Hamburg halten zu können. Die Kollegen der Aluhütte HAW, in der IG Chemie organisiert, können dagegen wohl schon an die Sozialplanverhandlungen denken.
Die HEW stehen in den kommenden Jahren vor der bitteren Aufgabe, ihren völlig falsch ausgelegten Kraftwerkspark abzuwracken und umzustrukturieren. Bereits 1988 hatte das renommierte Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in einem Atom-Ausstiegsgutachten für den Hamburger Senat nüchtern festgestellt: „Die Aluminiumerzeugung in Hamburg kann bei einem Ausstieg aus der Kernenergie nicht mehr aufrecht erhalten werden. Auch die Aufrechterhaltung der Produktion der Hamburger Stahlwerke und der Norddeutschen Affinerie AG ist zweifelhaft.“ Jetzt wird umgekehrt ein Schuh draus: Verschwinden Stahl- und Aluwerke, dann macht der gigantische AKW-Park der HEW keinen Sinn mehr. Die baldige Aufgabe der AKWs in Brunsbüttel und Stade mit noch völlig unkalkulierbaren Folgekosten und eine Kraftwerksstruktur, die nicht auf eine flexible, dezentrale und sparsame Erzeugung von Kraft und Wärme ausgerichtet ist, werden Hamburgs Stromkunden bald bitter zu spüren bekommen.
Stahl, Aluminium, Atomstrom: Hamburg steht vor den Trümmern einer Wirtschaftspolitik, mit der es Mitte der 60er den Aufbruch in ein neues Zeitalter wagen wollte. Der grauhaarige Ex-Arbeitssenator Jan Ehlers erinnert sich: „Mitte der 60er Jahre war den politisch Verantwortlichen in dieser Stadt klar, daß sie die Vollbeschäftigung auf Dauer nicht würden halten können. Wir haben uns damals für eine aktive Industriepolitik entschieden.“ In der Tat: Mitte der 60er Jahre, als die Stadt im Geld schwamm, ein paar hundert Arbeitslose sich in der Statistik verloren und die Wirtschaft massenweise Arbeitskräfte aus Süd-Europa importierte, schwenkte Hamburg von der Wiederaufbauphase auf eine fast vollständig mit öffentlichen Mitteln herbeisubventionierte Industriepolitik um.
Der Traum von der „Industrialisierung des Unterelberaums“ entstand. Die Dienstleistungs- und Verwaltungsstadt Hamburg mit ihren starken Seehafenindustrien (Werften, Raffinerien, Gummi) wollte einen Sprung in der Wirtschaftsentwicklung zurück machen. Nicht High-Tech war angesagt, wie es schon damals die Industriepolitiker in München und Stuttgart predigten, sondern Low-Tech auf der ersten industriellen Stufe: Grundstoffindustrien sollten her. Stahl, Aluminium, Chemie. Hamburgs Politiker starrten gebannt nach Rotterdam, das damals tatsächlich den „Zug zur Küste“ der Grundstoffindustrien erlebte. Hamburg sollte das wirtschaftliche Zentrum eines „Ruhrgebiets des Nordens“ werden. Die Vision von der Elbe als Industriekanal von Hamburg bis Cuxhaven entstand. Zwei breite Industriebänder mit Pipelines und Schiffsanlegern, Kühlwasserpumpen und Abwasserrohren sollten die Elbe säumen. Dahinter ein Abstandstreifen mit Autobahnen, dann Arbeiterwohnsilos und schließlich Grünanlagen.
Der damalige SPD-Wirtschaftssenator Helmuth Kern, erst kürzlich als Chef des städtischen Umschlagsgiganten Hamburger Lagerhaus Aktiengesellschaft (HHLA) in den Ruhestand entlassen, formulierte und prägte die Grundzüge dieser tatsächlich in Bruchstücken realisierten Strategie. Eckpfeiler war der Glaube an den billigen Atomstrom. Die HEW richteten ihre Kraftwerksstrategie voll auf AKW-Strom aus. Der Atommeiler Stade, das erste großindustrielle AKW Deutschlands, war von Beginn an auf die Kombination mit Chemie- und Aluminiumproduktion ausgerichtet. Zeitgleich mit dem Bau des AKW wurden das Chemierevier Stade, die Ansiedlung des Elektro-Stahlwerks der Korfgruppe (heute HSW) und, direkt daneben, die Gründung des Alu-Komplexes mitten in Obstbau-Marschen verwirklicht.
„Damals waren wir felsenfest davon überzeugt“
„Wir haben uns vielleicht geirrt – aber wir waren damals alle felsenfest von der Richtigkeit dieser Strategie überzeugt“, meint heute rückblickend Jan Ehlers. Eine etwas einseitige Sicht: Bereits in den frühen 70er Jahren enstand in Hamburg eine breite Umweltbewegung, die sich, vernetzt mit linken Vordenkern der IG Metall, gegen die Zerstörung des Unterelberaums wandte und vor den Folgen des industriepolitischen Wahnsinns warnte. Bürgerinitiativen im Alten Land konnten vor Gericht manchmal sogar Auflagen erzwingen. Am Ende freilich obsiegten Stadt und Industrie. Die Erfolge der „Bunten Liste/Wehrt Euch“, direkte Vorläuferin der Hamburger GAL, Ende der 70er Jahre waren eine politische Folge dieser Bewegung.
Von alleine, auch das steht heute fest, wäre die Industrie nie an die Elbe gekommen. Beispiel Aluminium: Mehr als eine halbe Milliarde Mark steckte die Stadt gleich zu Beginn in „Onkel Kerns Hütte“: 149 Millionen Mark direkte Zuschüsse, 80 Millionen-Zuschuß an die HEW, sowie weitere 534 Millionen Mark Kredite und Bürgerschaften. Hinzu kommen die Kosten für die Zerstörung der Obstbauernmarsch, die Umweltschäden im Alten Land (Fluor, Beeinträchtigung des Mikroklimas, Absenkung des Grundwassers, Zunahme der Nachtfröste ...) und die nie berücksichtigte Zahl der vernichteten Obstbauernarbeitsplätze. Den Gipfel der Subventionitis bilden jedoch die Strompreissubventionen, mit denen Hamburgs Privathaushalte seit 1973, dem ersten Betriebsjahr, die Aluproduktion erst ermöglichten. Da das Aluwerk 13 Prozent des gesamten HEW-Stroms und 40 Prozent des gesamten Industriestroms verbraucht, summieren sich die Verluste des Dumpingpreises auf mehrere Milliarden Mark in den vergangenen 20 Jahren.
Wirtschaftssenator Helmuth Kern jedoch jubelte 1974: Die Reynolds-Ansiedlung sei die „Zündung einer Rakete“ und Startsignal für die „Industrialisierung Norddeutschlands“. Die Rakete geriet schnell ins Trudeln. 1975 zwang Reynolds die Stadt, einen Großteil der Anlaufverluste zu übernehmen, und ist seither nur noch zu einem Drittel an der Aluminiumhütte beteiligt – die anderen Teile sind in den Händen eines deutschen (VIAG-Tochter VAW) und eines österreichischen (Austria Metall) Staatsbetriebes. Das lukrative Walzwerk (hier fallen die Gewinne an) behielt Reynolds allerdings. Bereits 1972 mußte die Stadt auch den Hamburger Stahlwerken erstmals mit Bürgschaften von 234 Millionen Mark unter die Arme greifen.
Schon Ende der 70er Jahre war allen Verantwortlichen klar, daß die Industrialisierungsstrategie grandios gescheitert war. Dow Chemical und die Vereinigten Aluminiumwerke in Stade, das Industrierevier Brunsbüttel sowie das Hamburger Metallrevier im Südosten blieben industrielle Inseln. In der Strukturkrise der 80er Jahre, in der Hamburgs industrielle Basis in breiter Front wegbrach, versäumte man es allerdings, die Fehler der Vergangenheit zur Kenntnis zu nehmen.
HDW hätte sich für eine Umstrukturierung geeignet
Schlimmer noch: Tatenlos sah die Stadt dem Untergang ihrer traditionsreichen Zivilwerft HDW zu. Dieser Großbetrieb hätte sich, die Erfahrungen in den neuen Bundesländern beweisen es heute, geradezu ideal für eine Umstrukturierung geeignet. Die vielfältigen Gewerke einer Werft (fast alle Metallberufe, Fähigkeiten in Elektroberufen, viele weitere Handwerksberufe) boten ideale Voraussetzungen für eine zukunftsweisende Umstrukturierung. Die HDW-Werftarbeiter trugen mit ihrem „Arbeitskreis Alternative Fertigung“ selbst eine Fülle kreativer und inzwischen anderswo längst realisierter Vorschläge zusammen. Der damalige SPD-Senat unter Bürgermeister Klaus von Dohnanyi, gestützt auf den Wandsbek-Clan um Fraktionschef Henning Voscherau und Gerd Weiland, sah in der Werft jedoch keine Zukunft. Binnen weniger Jahre verschwanden fast 5000 Arbeitsplätze. Fast zeitgleich, im Jahr 1983, löste die Stadt die Stahlwerkskrise auf eine ganz andere Weise: Der Wandsbeker Genosse Gerd Weiland durfte die HSW mit städtischen Bürgschaften übernehmen.
Den Missetätern von damals geht es prächtig
Ende der 80er Jahre unternahm die Stadt noch einen (letzten?) großindustriellen Ansiedlungsversuch. Diesmal war High-Tech angesagt. Der angeschlagene Philips-Konzern sollte für seine Chip-Tochter Valvo bei Hausbruch ein modernes Chipwerk bauen dürfen. Wieder stellte die Stadt Grundstück, Erschließung und EG-widrige Subventionen bereit – doch Philips verzichtete.
Nicht nur die Arbeiter der Stahl- und Aluwerke, die heute um ihre Arbeitsplätze bangen, sind angeschmiert. Gar nicht abzusehen ist, welche wirtschaftlichen Chancen Hamburg vor 20 Jahren verpaßt hat. Ein anderer Einsatz städtischer Mittel damals, zum Beispiel in Richtung Klein- und Mittelbetriebe oder in die Vernetzung vorhandener Strukturen, hätte, so vermuten Regionalökonomen der TU Harburg, der Stadt nicht nur ökologische Schäden und Haushaltsrisiken erspart, sondern auch ein Vielfaches an Arbeitsplätzen gebracht.
Den Missetätern von damals geht es prächtig. Die Garde der SPD-Wirtschafts- und Filzpolitiker hat weiter Karriere gemacht (Voscherau), Vermögen gescheffelt (Weiland) oder genießt heute in allerbesten wirtschaftlichen Verhältnissen einen angenehmen Lebensabend. Auch die Mittäter von damals bis heute, Banken, AKW-Bauer und Privatkonzerne, haben ihre Schäfchen ins Trockene gebracht. Natur, Arbeiter und Steuerzahler haben fast widerstandslos gezahlt. Bis heute.
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