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Vertrauen in „Senhor Jesus“

Reuige Häftlinge beten in Schlips und Anzug / Brasilien erlebt den Rausch der „zweiten Reformation“ / Jede Woche fünf neue Gotteshäuser / Die Evangelen sprechen nicht über „Macht“  ■ Aus Rio Astrid Prange

Ihr Händedruck ist feucht und kalt. Im Hochsicherheitsgefängnis „Bangu I“ in Rio de Janeiro reichen elf Häftlinge sich die Hände und beten. „Gott ist allmächtig. Er hat uns nicht als Pferd, sondern als Reiter geschaffen, Halleluja“, predigt Pastor Washington de Souza. Ein tiefes Raunen macht die Runde. Inmitten der Lobpreisung meldet sich der Gefangene José Carlos Gregorio, „O Gordo“ genannt, zu Wort. „Ich bin ein Wunder Gottes“, dankt der bekehrte Drogenhändler und Bankräuber seinem Erlöser, „keiner glaubte an meine Genesung.“

Es ist Freitag nachmittag. Ununterbrochen prasselt der Regen auf den offenen Abfluß der Galerie C und verscheucht die Fliegen. Pastor Washington de Souza von der Erweckungskirche „Assembleia de Deus“ (Gemeinde Gottes) und seine zwei Begleiter mit der Gitarre unterbrechen für kurze Zeit die tödliche Langeweile, die sonst in dem grauen Betongebäude mit seinen vergitterten Stahltüren herrscht. Nur unmittelbare Familienangehörige und Rechtsanwälte haben Zugang zu den 48 Insassen von „Bangu I“, die in der brasilianischen Öffentlichkeit als Anführer des organisierten Verbrechens gelten. Ansonsten sind die Häftlinge zum absoluten Nichtstun verurteilt.

Der Gesang der verlorenen Söhne dringt durch die Galerie bis ins Zimmer des Gefängnisdirektors Fransisco Spargoli Rocha. Der ehemalige Polizist steht dem Bekehrungseifer der Evangelisten skeptisch gegenüber: „An die Reue der kriminellen Elemente glaube ich erst“, so Rocha, „wenn sie das gestohlene Geld zurückgegeben haben.“ Pastor Washington de Souza läßt sich durch die Skepsis des Gefängnisdirektors nicht im geringsten irritieren. Die 48 Insassen von „Bangu I“ haben ein Anrecht auf religiösen Beistand. Im Gegensatz zu dem katholischen Pater Bruno, der sich in unregelmäßigen Abständen nach dem Wohlbefinden der Gefangenen erkundigt, macht der 54jährige Pastor ihnen einmal wöchentlich seine Aufwartung.

„Der Glaube an Gott ist wie das Vertrauen in einen Revolver“, eröffnet de Souza seine Predigt. „Wer abdrückt, glaubt daran, daß eine Kugel rauskommt.“ Das leuchtet den Bossen der Unterwelt unmittelbar ein. Um die Allmächtigkeit von „Senhor Jesus“ zu veranschaulichen, greift der Pastor auf seine internationalen Erfahrungen zurück. „Ich war neulich in Uruguay, dort ist es billiger, zu fliegen als mit dem Bus zu fahren“, erzählt er, als ob der Abstecher ins brasilianische Nachbarland einer Reise auf den Mond gleichkäme. Selbstverständlich war das Flugzeug ausgebucht. „Aber für Gott ist nichts unmöglich. Ich betete, und siehe, im letzten Augenblick wurde noch ein Platz für mich frei“, rührt er die Werbetrommel.

Die Verführungskünste von Pastor Washington de Souza sind erfolgreich: Bereits elf der insgesamt achtundvierzig Outlaws in „Bangu I“ sind zum evangelischen Glauben übergetreten. „Zehn weitere“, so Pastor Washington de Souza, „haben mich um die Taufe gebeten.“ Nicht nur die Gefängnisbevölkerung erliegt mehr und mehr der Botschaft der „Gemeinde Gottes“. Ganz Brasilien durchlebt augenblicklich den Rausch der „zweiten Reformation“. Der Ungehorsam gegenüber dem katholischen Klerus kommt diesmal nicht von lutherischer Seite, sondern aus dem Lager der Pfingstgemeinden und Erweckungskirchen.

Allein im Großraum Rio de Janeiro werden pro Woche fünf neue Gotteshäuser eingeweiht. Nach Angaben des brasilianischen Instituts für religiöse Studien (Iser) in Rio unterhalten rund um den Zuckerhut 85 verschiedene evangelische Kirchen 4.500 Tempel. Caio Fabio de Araujo, Vorsitzender der „Evangelischen Vereinigung Brasiliens“ (AEVB), führt den Schwung im evangelischen Lager auf die vielen Jugendlichen unter den Neumitgliedern zurück: „Zwei Drittel der dreißig Millionen Evangelen in Brasilien sind unter 25 Jahren.“

Doch was bringt Jugendliche dazu, in die Kirche zu gehen, statt sich in der Sambaschule mitreißenden Karnevalsrhythmen hinzugeben? Elias Ribeiro, bis vor kurzem Chef der Rhythmusgruppe „Bateria“ aus der Sambaschule „Academicos da Rocinha“, glaubt die Antwort zu wissen: „Samba ist antibiblisch und infernal.“ Abgesehen von wenigen Ausnahmen seien alle Mitglieder der „Bateria“ drogensüchtig. „Wo Samba ist, sind auch Sex und Drogen“, spricht der bekehrte Musiker. Er spielt nun die Gitarre für Gefangene. Pastor Washington steht ihm bei: „Recht hat er. Oder halten Sie etwa eine nackte Frau für Kunst?“

Den Versuchungen des Fleisches scheinen die Pfingstler zu widerstehen, doch wenn es um ihren Glauben geht, sind sie ebenso fanatisch wie traditionelle Sambafans beim Karneval. Die Mitglieder der Baptistengemeinde „Igreja Congregacional do Bento Ribeiro“ aus dem gleichnamigen Vorort von Rio beten jeden ersten Freitag im Monat die ganze Nacht durch. An dem Gottesdienst, der von 10 Uhr abends bis 5 Uhr morgens dauert, nehmen mehr als siebentausend Menschen teil.

Für nichteingeweihte Teilnehmer der „Nachtwache“ ist es zunächst nicht ganz klar, ob sie sich im „Sambadromo“ – dort werden in Rio die alljährlichen Karnevalsumzüge veranstaltet –, in einem Fußballstadion oder einer Kirche befinden. Die Menschentrauben auf den unverputzten Tribünen wiegen im Rhythmus der Rock- Liturgie hin und her und brüllen die Lieder zur Lobpreisung Jesus so inbrünstig heraus, als würden sie ihr Fußballteam anfeuern. „Ha-le- lu-ja, er ist auferstanden“, dröhnt es aus den riesigen Lautsprechern. Siebentausend Menschen erheben sich und strecken ihre Arme in den Himmel. „Er lebt!“ Die Menschenmenge winkt, als habe sie in weiter Ferne Jesus persönlich ausgemacht. „Laßt uns feiern!“ Die Fäuste der Gläubigen ballen sich, prasselnder Applaus und ekstatische Amen-Rufe übertönen die Rockband. Ein Pastor in Jeans und T-Shirt ruft nach dem Heiligen Geist. „Verleihe uns Macht über diejenigen Leben, die noch vom Teufel beherrscht werden“, fleht er seinen Herrn an. Den anwesenden Gläubigen versichert er mit unheilschwangerer Stimme, daß sie im Namen von Jesus befreit worden seien.

Über den Faktor „Macht“ spricht man im evangelischen Milieu nicht, man spürt sie. „Keiner in Brasilien außer uns schafft es, in Windeseile Millionen von Menschen zusammenzutrommeln. Keiner verfügt über so ein perfektes Netzwerk wie wir“, erklärt Washington de Souza. Fürwahr: 67 christliche Radiostationen, 30 evangelische Plattenfirmen und mehrere Fernsehsender beeinflussen mit ihrem christlichen Marketing die Brasilianer zwischen Amazonas und Pampa. Seit dem 5. Juni 1992, als die Evangelen im Stadtzentrum von Rio anläßlich des internationalen Umwelttages 1,2 Millionen Menschen versammelten, ist Pastor Washington ein gefragter Mann. Politiker aller Schattierungen hofieren den ehemaligen Manager, denn ein gutes Wort aus seinem Mund reicht aus, um eine Wahl zu gewinnen.

Noch gleicht das schäbige Büro Pastor Washingtons nicht gerade einem einflußreichen Kabinett. Das Gebäude des ehemaligen Technischen Überwachungsvereins, in dem sich die „Assembleia de Deus“ einquartiert hat, soll in ein paar Wochen abgerissen werden und einem neuen Tempel weichen. Im mit Computer, Fax und Telefon ausgerüsteten Hinterzimmer bastelt Pastor Washington schon jetzt mit an den Wundern des Herrn herum. Als Mitglied einer siebenköpfigen Kommission der brasilianischen Justiz kann er nämlich darauf Einfluß nehmen, ob ein Häftling mit guter Führung vorzeitig entlassen wird.

Jorge Fernando Sales gehört zu der auserwählten Gruppe von bekehrten Häftlingen, dem solch eine Gnade widerfuhr. Der 29jährige wurde wegen bewaffneten Raubüberfalls zu sechzehn Jahren Haft verurteilt, die Hälfte davon hat er bereits abgesessen. Vor kurzem hat er „Jesus angenommen“, und seitdem hat sich in seinem Leben alles zum Besseren gewandelt. Nicht nur, daß er von dem fluchtsicheren Gefängnis auf der Insel „Ilha Grande“ in eine Haftanstalt nach Rio versetzt wurde, deren Insassen kurz vor der Entlassung stehen. Seit seiner Bekehrung setzt sich Jorge Sales von den anderen Häftlingen durch sein vornehmes Auftreten in Anzug und Krawatte ab. Tagsüber predigt er das Evangelium in der Gefängniskapelle. Außerdem bereitet er sich auf die Aufnahmeprüfung der Universität vor. Eine beachtliche Leistung angesichts der Statistik, nach der 90 Prozent aller Gefangenen in Brasilien weniger als acht Jahre Schulbildung hinter sich haben.

„Die katholische Kirche hat schöne Theorien, wir helfen den Gläubigen im Alltag“, so Washington de Souza. Die evangelischen Kirchen vermittelten ein Bild von Jesus, dem die Kopfschmerzen oder Eheprobleme seiner Anhänger nicht gleichgültig seien. „Die neuen Kirchen halten für die heutigen Probleme einfache Erklärungen bereit“, kommentiert Antonio Gouvea Mendonca, Religionsprofessor aus São Paulo, das Erfolgsrezept der Evangelen. Die traditionellen Protestanten oder Katholiken hingegen würden Armut als Ausdruck von Sünde oder Schicksal ansehen.

Die katholische Kirche bezeichnet die charismatischen Pfingstgemeinden schlicht als Sekten. Dom Estevao Bittencourt aus dem Kloster São Bento in Rio bezweifelt, daß bereits jeder fünfte Brasilianer ins evangelische Lager übergewechselt sei: „Die Statistiken der AEVB sind nicht glaubhaft. sie weisen triumphalistische Züge auf“, meint der Mönch. Er räumt allerdings ein, daß es die katholische Kirche wohl verpaßt habe, sich dem Zeitgeist anzupassen.

Marcio Araujo, Pressesprecher der brasilianischen Arbeiterpartei PT, führt die Glaubensexplosion im evangelischen Lager auf die Bekämpfung der „Befreiungstheologie“ durch den Vatikan zurück. Der PT-Vertreter meint: „Die Vertreibung von sozial engagierten Padres aus den Elendsvierteln hat ein Vakuum hinterlassen.“ Statt dessen leisten nun die Erweckungsgemeinden den Armen religiösen Beistand. Daß sie dieses nicht immer ganz uneigennützig tun, wurde jüngst von dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuß (CPI) bestätigt, der die Manipulation von Haushaltsgeldern aufdeckte (die taz berichtete). Viele der Abgeordneten, die der zwanzigköpfigen evangelischen Fraktion im brasilianischen Parlament angehören, sind in den Korruptionsskandal verwickelt.

Die Scharen bekehrter Drogenhändler, Süchtiger und Mörder sind in ihrem missionarischen Eifer nicht zu bremsen. Die „Gemeinde Gottes“ verfügt über 110.000 Tempel in ganz Brasilien. „Wir haben in der miserabelsten Favela, wo sich keiner hintraut, eine Kirche“, sagt Pastor Washington stolz. Dort würde die Kirche Alphabetisierungskurse und kurze Berufsausbildungen anbieten. Doch die Gemeinde der charismatischen Kirchen bleibt ein treues Abbild der brasilianischen Gesellschaft: Eine verschwindend kleine Minderheit schwimmt im Geld, während die Mehrheit des 144- Millionen-Volkes von der Hand in den Mund lebt.

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