: Zwischen Vermeer und Kant: Allein im Raum
Und je näher du sie anschaust, um so ferner schaut sie zurück: Die junge Dame mit den Schleifen im Haar, an deren hermelinbesetztem Morgenkleide Vermeer sich insgesamt wenigstens viermal versuchte, ist inniglich beschäftigt: Sie schreibt einen Brief. Wir können annehmen, daß es sich um einen Liebesbrief handelt, obwohl der Maler, dezenter als seine Zeitgenossen, es an drastischen Hinweisen fehlen ließ. Nicht einmal auf dem Bild im Bild, das den Hintergrund bedämmert, ist mehr zu erkennen als vage Gegenständliches: kein Mensch und nichts Natürliches; das Bukolische, das anspielungsreich Humoristische, der Wink des Schicksals fehlen ganz. Die Ohrringe hat sie schon angetan, die Perlenkette liegt noch vor ihr und glänzt, wie es sich meisterlich gehört, anders, schimmert bestimmter als die zitronenfarbene Seide, in deren Falten es leuchtet, oder der Hermelin, der das Licht zu atmen scheint. Nicht zu reden davon, daß die Schleifen den Kopf irrlichtern umkränzen, nicht zu erwähnen, daß die Kette oft durch die Hände wandert... die Szene ist ja völlig vom Sakralen befreit und ganz frühbürgerlich: Der Raum muß angenehm beheizt sein, denn die Unterarme der Innehaltenden liegen matt und bloß, und mit ihrem distinguierten Teint würde heutzutage bestimmt Chanel Reklame machen. Aber nichts von all dem zählt: Die junge Dame schreibt einen Brief, und wie fast alle Figuren Vermeers ist sie so mit dem beschäftigt, was sie beschäftigt, daß alle Vermutungen zurück zum Betrachter wandern.
„Der Raum ist kein allgemeiner Begriff von Verhältnissen der Dinge überhaupt“, schrieb Kant, „sondern eine reine Anschauung...“ Kant wollte beweisen, daß der Mensch eine Vorstellung von der Einigkeit des Raums, vom Raum an sich habe, denn „wenn man von vielen Räumen redet, so versteht man darunter nur Teile eines und desselben alleinigen Raumes“. Diese Herleitung, die Gottes nicht mehr bedarf, führt zum Schauenden zurück. Denn der Raum „ist wesentlich einig. Das Mannigfaltige in ihm, mithin auch der allgemeine Begriff von Räumen überhaupt, beruht lediglich auf Einschränkungen.“ Diese Einschränkungen sind Erfahrung, der Raum ist schon in uns, nicht als Begriffsbildung, sondern a priori: eben als reine Anschauung. Was Kant 1788 für die philosophische Zunft bewies, hat Vermeer ein gutes Jahrhundert zuvor gemalt: Seine Bildausschnitte, mit Innen- und Außenräumen spielend, oder, wie die „Straße in Delft“, radikal ein Haus anschneidend, zeigen jeden Raum als Teil desselben alleinigen Raums, die Anschaulichkeit als Erfahrung in der „reinen Anschauung“.
Die Versunkenheit seiner Figuren, die sogar, wenn sie – wie die junge Schreibende – dem Betrachter in die Augen sehen, hebt die empirische Räumlichkeit auf: Scheinbar absichtslos und willkürlich sind die – angeschnittenen – Stühle um jenen Tisch verteilt, an dem zum Beispiel „Die brieflesende Frau“ (die Schwangere in Blau, vor einer Landkarte) steht und das für sie beschriebene Blatt in Händen hält. Sie ist vermutlich aufgestanden, um das Licht vom Fenster her besser nutzen zu können, vielleicht aber fällt ihr der Schwangerschaft halber nur das Sitzen schwer, oder der Brief, der Weltkarte nach von weit her, bringt Nachrichten, für die eine sitzende Haltung nicht angemessen erscheint: Wir wissen es nicht, denn Vermeers junge Damen bleiben oft bei sich, und wir sind ebenso achtlos zur Seite geschoben wie der Stuhl, von dem sie sich erhoben hat. Für uns allerdings hat Vermeer den Bildausschnitt bestimmt, seinen ästhetischen Gesetzen folgend und darauf vertrauend, daß wir diesen empirischen Raum, diese Einschränkung anschauend verstehen.
Vermeers „Briefschreibendes Mädchen“ war ein Exponat der Frankfurter Schirn-Ausstellung „Leselust“, die Anfang des Jahres zu Ende ging. Der ausgezeichnete Katalog aber, dessen Aufsätze vom Historisch-Empirischen bis zur kunsttheoretischen Auseinandersetzung der Gegenwart mit dem „Großen Zeitalter“ der niederländischen Malerei reichen und der alle Bilder in geradezu leuchtender Qualität reproduziert, ist auch weiterhin erhältlich. ES
„Leselust“, herausgegeben von Sabine Schulze. 381 Seiten, DM 45. Schirn Kunsthalle Frankfurt, Am Römerberg, 60311 Frankfurt/ Main.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen