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■ Tour d'EuropeKleine Tunnelkunde

Ohne Zweifel ist der Tunnel eine der archaischsten Formen menschlicher Bautätigkeit, die die ersten Zweifüßer, kaum daß sie von ihren Bäumen herabgestiegen waren, mutmaßlich schnurstracks dem Maulwurf abgeschaut hatten. Im weiteren Lauf der Erdgeschichte entwickelten sich Maulwurf und Mensch zunehmend auseinander, gemeinsam blieb ihnen jedoch die Vorliebe, Gänge zu graben, wobei die Menschen alsbald bemerkten, daß Tunnel nicht nur dazu taugten, irgendwo hinzukommen, sondern genauso dazu, sich von einem unliebsamen Ort zu entfernen oder sich unauffällig einem besonders liebsamen anzunähern. Der Homo sapiens entdeckte den Ein- und Ausbruchstunnel.

Von den altägyptischen Grabräubern bis zu jenen Millionendieben der Neuzeit, die vor einigen Jahren in Nizza den Raub des Jahrhunderts vollbrachten, wählten gewiefte Leute gerne den Weg durchs Erdreich, um sich fremder Leute Gut zu bemächtigen. Abseits aller Habgier sind Tunnelsysteme, das wußte der Minotaurus ebensogut wie der dritte Mann, natürlich auch bestens geeignet, sich unliebsame Zeitgenossen vom Hals zu halten. Ein besonders gelungenes Beispiel zeigt der chinesische Film „Tunnelkriege“ von 1965, in dem clevere Chinesen, emsig die Lehren Mao Tse-tungs rezitierend, die tumben japanischen Besatzer durch eine ausgeklügelte Tunnelanlage hoffnungslos in die Irre führen.

Die vornehmste Form des Tunnels indes ist der unterirdische Weg in die Freiheit, der allerdings mitunter seine Tücken hat. Das Projekt des Anarchisten Alexander Berkman, der wegen eines Anschlages auf einen Boß der Carnegie- Werke im Gefängnis zu Pittsburgh saß, ging als deprimierendstes Beispiel einer gescheiterten Tunnelflucht in die Annalen ein. Von einem Haus, das 70 Meter vom Gefängnistor entfernt lag, gruben zwei Freunde im Sommer 1900 in monatelanger Wühlerei einen Gang zum Gefängnishof. Wegen der giftigen Gase pumpte eine aufwendige Anlage Sauerstoff in den engen Tunnel; um den Lärm zu übertönen, wurde eine ebenso revolutionär gesinnte wie talentierte Klavierspielerin eingesetzt. Als das Werk endlich vollendet war und Berkman die ersehnte Flucht antreten wollte, mußte er feststellen, daß kurz zuvor ein Haufen Baumaterial über dem Tunnelausgang abgeladen worden war.

Auch im Spionagewesen wird gern getunnelt, so in den 50er Jahren in Berlin, wo CIA und der britische Geheimdienst MI 6 einen Tunnel unter die sowjetische Telefonzentrale im Ostteil anlegten. Mit der Bauleitung betrauten sie ausgerechnet Meisterspion George Blake, der zu jener Zeit längst für den KGB arbeitete. 1961 wurde Blake in London zu 42 Jahren Haft verurteilt, einige Jahre später brach er aus. Eingedenk des Schicksals von Berkman nicht per Tunnel, sondern mit einer schnöden Strickleiter. Manchmal gerät selbst ein Maulwurf auf Abwege.Matti Lieske

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